Einsam in der Menge

Predigt über Psalm 69,17‑22 zum Sonntag Palmarum

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Kennt ihr das: die Einsamkeit in der Menge? Dass du dich allein gelassen fühlst, obwohl viele Menschen um dich herum sind? Du bist unter Menschen, aber sie verstehen dich nicht. Du möchtest ihnen mitteilen, wie dir zumute ist, aber du findest nicht die richtigen Worte. Du wünschst dir, dass sie sich für dich interes­sieren und mit dir mitfühlen, aber offenbar bist du ihnen egal. Die Menschen um dich herum lassen dich links liegen, kriti­sieren dich oder sind ober­flächlich freundlich zu dir. Da ist keiner, der sich wirklich um dich kümmert.

Viele kennen das, die Einsamkeit in der Menge. Besonders ist sie dort an­zutreffen, wenn jemand entweder ganz unten oder ganz oben auf der gesell­schaft­lichen Treppe steht. Ein Obdach­loser in der Fußgänger­zone und ein Regierungs­chef an der Spitze der Macht haben dieses Eine gemeinsam: die Einsamkeit in der Menge. Der Obdachlose sitzt am Gehweg – arm, krank und nieder­geschla­gen. Die Menschen hetzen achtlos an ihm vorüber, und wenn ihn jemand ansieht, dann nur ver­ächt­lich oder spöttisch. Falls ihm doch mal jemand etwas Gutes tut, dann ist diese Hilfe besten­falls einen Euro wert. Niemand hat echtes Mitgefühl, keiner kümmert sich wirklich um den Mann, der da um Hilfe bittet. Ja, einsam ist der Obdachlose in der Menge. Der Regierungs­chef am anderen Ende der Gesell­schafts­leiter bittet niemanden um Hilfe, wird vielmehr von allen um Hilfe gebeten. Große Er­wartungen werden an ihn gerichtet, die er gar nicht alle erfüllen kann. Niemand fragt danach, was er denn selbst nötig hat, was ihn möglicher­weise ängstet und quält. Miss­trauisch muss er sein, denn er weiß nicht wirklich, wem er vertrauen kann. Feinde hat er viele. Einige greifen ihn böswillig an, andere über­schütten ihn mit Spott, wieder andere verstellen sich, tun freundlich und hilfs­bereit. Ja, einsam ist auch der Regierungs­chef in der Menge.

David kannte ebenfalls die Einsamkeit in der Menge – sowohl als Ausgestoßener auf der Flucht als auch später als König. Von David stammen die Worte, die wir eben als Predigt­text gehört haben. Sie sind ein Hilfe­schrei an Gott. „Mir ist angst; erhöre mich eilends“, betete David, und: „Du kennst meine Schmach, meine Schande und Scham; meine Wider­sacher sind dir alle vor Augen. Die Schmach bricht mir mein Herz und macht mich krank. Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand, und auf Tröster, aber ich finde keine.“ David merkte, dass letztlich auch die, die sich freundlich stellen, ihm eins auswischen wollen, und er kleidete es in dieses Bild: Was sie ihm zu essen und zu trinken anbieten, ist letztlich galle­bitteres Gift, ist letztlich scharf und sauer wie Essig. Er klagte: „Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst.“

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, an dieser Stelle merken wir, dass David in diesem Psalm prophezeit hat. Wie viele andere Davids­psalmen ist auch dieser Psalm letztlich kein persön­liches Gebetslied des berühmten David, sondern ein Gebetslied des Davids­sohns Jesus Christus, das der Heilige Geist dem Stammvater David pro­phetisch in den Mund gelegt hat. Denn das hat sich ja unter dem Kreuz erfüllt: Die Feinde Jesu, die römischen Henkers­knechte, wollten Jesus mit einem galle­bitteren Gifttrunk betäuben, bevor sie sein Kreuz auf­richteten, aber Jesus lehnte das ab. Und später haben sie ihm einen Schwamm mit scharfem und saurem Essig­wasser an den Mund gereicht, dem billigen Er­frischungs­getränk der einfachen Leute. Möglicher­weise waren das Taten des Mitleids, aber sie waren doch wohl nicht viel mehr wert als der Euro, den der gleich­gültige Passant dem Obdach­losen in die Mütze wirft. Und ebenso wie der Obdachlose war Jesus da ganz unten in der Rang­ordnung der Gesell­schaft – wiewohl er oben am Kreuz hing. Auf Golgatha war er tat­sächlich der „Aller­verach­tetste und Un­werteste“, wie Jesaja prophezeit hatte (Jes. 53,3). Er wurde verspottet als hilfloser Juden­könig, an­gefeindet als übler Gottes­lästerer, hin­gerichtet wie ein Schwer­ver­brecher. Davids pro­phetische Gebets­worte gehören hierhin: „Du kennst meine Schmach, meine Schande und Scham; meine Wider­sacher sind dir alle vor Augen. Die Schmach bricht mir mein Herz und macht mich krank. Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand, und auf Tröster, aber ich finde keine.“ Ja, am Kreuz von Golgatha war auch Jesus einsam in der Menge als der „Aller­verach­tetste“.

Bereits fünf Tage vorher war Jesus einsam in der Menge gewesen – obwohl ihn das Volk da nicht verachtet, sondern bejubelt hatte. An dieses Ereignis erinnern wir uns am heutigen Palm­sonntag. Wie ein Trium­phator zog Jesus da in Jerusalem ein, wie ein sieg­reicher König. Er ritt auf einem Esel, und seine Jünger be­gleiteten ihn wie eine Leibwache. Man breitete Kleider vor ihm aus auf dem Weg und winkte ihm mit den riesigen Blättern von Dattel­palmen zu. Und die Menge schrie das Wort, mit dem man großen Königen zu huldigen pflegte: „Hosianna!“ – „Hilf doch!“ Ja, die Er­wartungen an Jesus waren groß an diesem Tag. Viele hofften, jetzt würde er sich endlich als Messias offen­baren. Viele hofften, jetzt würde er den Befreiungs­kampf beginnen und siegreich zu Ende führen. Man dachte, er würde die Römer ver­treiben, Israel wieder zur Selbst­ständig­keit verhelfen und sich als Friedens­könig auf den Thron setzen. Wie wenig sie begriffen hatten! Wie wenig sie ihn ver­standen! Wie wenig sie danach fragten, was ihn an diesem Tag wirklich be­schäftigte! Sogar seine eigenen Jünger hatten vergessen, was er ihnen mehrmals ein­dringlich gesagt hatte: dass der Menschen­sohn in Jerusalem leiden und sterben und am dritten Tag wieder auf­erstehen muss. So war Jesus bereits am Palm­sonntag einsam in der Menge gewesen, un­verstanden von den Freunden, gehasst von den Feinden, mit falschen Er­wartungen überhäuft vom Volk. Das ist der Auftakt der Karwoche, der Leidens­tage Jesu – erst einsam als König, dann einsam als Hin­gerich­teter.

Bei Jesus gehört beides un­mittelbar zusammen: die Einsamkeit als König und die Einsamkeit als Hin­gerich­teter. In beiden Fällen ist es eine Einsam­keit, die er nicht verdient hat, sondern die er als unser Leiden auf sich genommen hat. Jesus weiß also, wie dir zumute ist und wie jedem Menschen zumute ist. Jesus kennt die Einsamkeit des Obdach­losen, die Einsamkeit des Regierungs­chefs und auch deine Einsamkeit in der Menge. Aber Jesus kennt noch mehr, eine noch tiefer gehende Einsam­keit. Es ist die Einsam­keit, die ihn schreien ließ: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich ver­lassen?“ David betete pro­phetisch: „Erhöre mich Herr… wende dich zu mir… verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knechte… nahe dich zu meiner Seele!“ Am Kreuz musste der Davidssohn jedoch die Erfahrung machen, dass der himmlische Vater weghörte – dieses eine Mal. Da hat er sich von ihm ab­gewendet, da hat er sein Angesicht vor dem Gottes­knecht Jesus verborgen, da blieb er seiner Seele fern. Da war Jesus nicht nur von Feind und Freund im Stich gelassen worden und von allen Menschen, sondern sogar von Gott. Da hat Jesus in seiner Seele die Hölle erlebt. Da war Jesus so einsam, wie es schlimmer nicht mehr geht.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, diese schwär­zeste Stunde im Leben des Gottes­sohnes ist die Stunde unserer Erlösung. Weil der Vater im Himmel seinen Sohn damals verlassen hat, können wir gewiss sein, dass er sich niemals von uns abwendet, selbst wenn alle Menschen um uns herum uns im Stich lassen. Wei der Vater im Himmel seinem Sohn damals nicht geholfen hat, darum dürfen wir allezeit und in Ewigkeit mit Gottes Hilfe rechnen. Weil Jesus damals auf der untersten Stufe als Aller­verach­tetster die Schmach des Kreuzes und der Gott­verlassen­heit ertragen hat, hat sich unser Herr als mäch­tigster König und größter Sieger aller Zeiten erwiesen. Noch einmal: Bei Jesus gehört beides un­mittelbar zusammen, die Einsamkeit als König und die Einsamkeit als Hin­gerich­teter. Man er­niedrigte ihn, indem man ihn am Kreuz hoch auf­richtete. Indem er das zuließ und sich selbst er­niedrigte, wurde er von seinem himm­lischen Vater als Herr über alle Herren erhöht. Beides zusammen hat er an­gekündigt mit dem Wort an seine Jünger, das als Wochen­spruch für die Karwoche ausgewählt wurde: „Der Menschen­sohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben“ (Joh. 3,15‑15). So bleibt uns nur, diesem König zu­zujubeln, Hosianna zu rufen und zu singen: „Das Kreuz ist der Königs­thron, / drauf man dich wird setzen, / dein Haupt mit der Dornenkron / bis in' Tod verletzen. / Jesus, dein Reich auf der Welt / ist ja lauter Leiden; / so ist es von dir bestellt / bis zum letzten Scheiden.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2012.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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