Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Kennt ihr das: die Einsamkeit in der Menge? Dass du dich allein gelassen fühlst, obwohl viele Menschen um dich herum sind? Du bist unter Menschen, aber sie verstehen dich nicht. Du möchtest ihnen mitteilen, wie dir zumute ist, aber du findest nicht die richtigen Worte. Du wünschst dir, dass sie sich für dich interessieren und mit dir mitfühlen, aber offenbar bist du ihnen egal. Die Menschen um dich herum lassen dich links liegen, kritisieren dich oder sind oberflächlich freundlich zu dir. Da ist keiner, der sich wirklich um dich kümmert.
Viele kennen das, die Einsamkeit in der Menge. Besonders ist sie dort anzutreffen, wenn jemand entweder ganz unten oder ganz oben auf der gesellschaftlichen Treppe steht. Ein Obdachloser in der Fußgängerzone und ein Regierungschef an der Spitze der Macht haben dieses Eine gemeinsam: die Einsamkeit in der Menge. Der Obdachlose sitzt am Gehweg – arm, krank und niedergeschlagen. Die Menschen hetzen achtlos an ihm vorüber, und wenn ihn jemand ansieht, dann nur verächtlich oder spöttisch. Falls ihm doch mal jemand etwas Gutes tut, dann ist diese Hilfe bestenfalls einen Euro wert. Niemand hat echtes Mitgefühl, keiner kümmert sich wirklich um den Mann, der da um Hilfe bittet. Ja, einsam ist der Obdachlose in der Menge. Der Regierungschef am anderen Ende der Gesellschaftsleiter bittet niemanden um Hilfe, wird vielmehr von allen um Hilfe gebeten. Große Erwartungen werden an ihn gerichtet, die er gar nicht alle erfüllen kann. Niemand fragt danach, was er denn selbst nötig hat, was ihn möglicherweise ängstet und quält. Misstrauisch muss er sein, denn er weiß nicht wirklich, wem er vertrauen kann. Feinde hat er viele. Einige greifen ihn böswillig an, andere überschütten ihn mit Spott, wieder andere verstellen sich, tun freundlich und hilfsbereit. Ja, einsam ist auch der Regierungschef in der Menge.
David kannte ebenfalls die Einsamkeit in der Menge – sowohl als Ausgestoßener auf der Flucht als auch später als König. Von David stammen die Worte, die wir eben als Predigttext gehört haben. Sie sind ein Hilfeschrei an Gott. „Mir ist angst; erhöre mich eilends“, betete David, und: „Du kennst meine Schmach, meine Schande und Scham; meine Widersacher sind dir alle vor Augen. Die Schmach bricht mir mein Herz und macht mich krank. Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand, und auf Tröster, aber ich finde keine.“ David merkte, dass letztlich auch die, die sich freundlich stellen, ihm eins auswischen wollen, und er kleidete es in dieses Bild: Was sie ihm zu essen und zu trinken anbieten, ist letztlich gallebitteres Gift, ist letztlich scharf und sauer wie Essig. Er klagte: „Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst.“
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, an dieser Stelle merken wir, dass David in diesem Psalm prophezeit hat. Wie viele andere Davidspsalmen ist auch dieser Psalm letztlich kein persönliches Gebetslied des berühmten David, sondern ein Gebetslied des Davidssohns Jesus Christus, das der Heilige Geist dem Stammvater David prophetisch in den Mund gelegt hat. Denn das hat sich ja unter dem Kreuz erfüllt: Die Feinde Jesu, die römischen Henkersknechte, wollten Jesus mit einem gallebitteren Gifttrunk betäuben, bevor sie sein Kreuz aufrichteten, aber Jesus lehnte das ab. Und später haben sie ihm einen Schwamm mit scharfem und saurem Essigwasser an den Mund gereicht, dem billigen Erfrischungsgetränk der einfachen Leute. Möglicherweise waren das Taten des Mitleids, aber sie waren doch wohl nicht viel mehr wert als der Euro, den der gleichgültige Passant dem Obdachlosen in die Mütze wirft. Und ebenso wie der Obdachlose war Jesus da ganz unten in der Rangordnung der Gesellschaft – wiewohl er oben am Kreuz hing. Auf Golgatha war er tatsächlich der „Allerverachtetste und Unwerteste“, wie Jesaja prophezeit hatte (Jes. 53,3). Er wurde verspottet als hilfloser Judenkönig, angefeindet als übler Gotteslästerer, hingerichtet wie ein Schwerverbrecher. Davids prophetische Gebetsworte gehören hierhin: „Du kennst meine Schmach, meine Schande und Scham; meine Widersacher sind dir alle vor Augen. Die Schmach bricht mir mein Herz und macht mich krank. Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand, und auf Tröster, aber ich finde keine.“ Ja, am Kreuz von Golgatha war auch Jesus einsam in der Menge als der „Allerverachtetste“.
Bereits fünf Tage vorher war Jesus einsam in der Menge gewesen – obwohl ihn das Volk da nicht verachtet, sondern bejubelt hatte. An dieses Ereignis erinnern wir uns am heutigen Palmsonntag. Wie ein Triumphator zog Jesus da in Jerusalem ein, wie ein siegreicher König. Er ritt auf einem Esel, und seine Jünger begleiteten ihn wie eine Leibwache. Man breitete Kleider vor ihm aus auf dem Weg und winkte ihm mit den riesigen Blättern von Dattelpalmen zu. Und die Menge schrie das Wort, mit dem man großen Königen zu huldigen pflegte: „Hosianna!“ – „Hilf doch!“ Ja, die Erwartungen an Jesus waren groß an diesem Tag. Viele hofften, jetzt würde er sich endlich als Messias offenbaren. Viele hofften, jetzt würde er den Befreiungskampf beginnen und siegreich zu Ende führen. Man dachte, er würde die Römer vertreiben, Israel wieder zur Selbstständigkeit verhelfen und sich als Friedenskönig auf den Thron setzen. Wie wenig sie begriffen hatten! Wie wenig sie ihn verstanden! Wie wenig sie danach fragten, was ihn an diesem Tag wirklich beschäftigte! Sogar seine eigenen Jünger hatten vergessen, was er ihnen mehrmals eindringlich gesagt hatte: dass der Menschensohn in Jerusalem leiden und sterben und am dritten Tag wieder auferstehen muss. So war Jesus bereits am Palmsonntag einsam in der Menge gewesen, unverstanden von den Freunden, gehasst von den Feinden, mit falschen Erwartungen überhäuft vom Volk. Das ist der Auftakt der Karwoche, der Leidenstage Jesu – erst einsam als König, dann einsam als Hingerichteter.
Bei Jesus gehört beides unmittelbar zusammen: die Einsamkeit als König und die Einsamkeit als Hingerichteter. In beiden Fällen ist es eine Einsamkeit, die er nicht verdient hat, sondern die er als unser Leiden auf sich genommen hat. Jesus weiß also, wie dir zumute ist und wie jedem Menschen zumute ist. Jesus kennt die Einsamkeit des Obdachlosen, die Einsamkeit des Regierungschefs und auch deine Einsamkeit in der Menge. Aber Jesus kennt noch mehr, eine noch tiefer gehende Einsamkeit. Es ist die Einsamkeit, die ihn schreien ließ: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ David betete prophetisch: „Erhöre mich Herr… wende dich zu mir… verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knechte… nahe dich zu meiner Seele!“ Am Kreuz musste der Davidssohn jedoch die Erfahrung machen, dass der himmlische Vater weghörte – dieses eine Mal. Da hat er sich von ihm abgewendet, da hat er sein Angesicht vor dem Gottesknecht Jesus verborgen, da blieb er seiner Seele fern. Da war Jesus nicht nur von Feind und Freund im Stich gelassen worden und von allen Menschen, sondern sogar von Gott. Da hat Jesus in seiner Seele die Hölle erlebt. Da war Jesus so einsam, wie es schlimmer nicht mehr geht.
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, diese schwärzeste Stunde im Leben des Gottessohnes ist die Stunde unserer Erlösung. Weil der Vater im Himmel seinen Sohn damals verlassen hat, können wir gewiss sein, dass er sich niemals von uns abwendet, selbst wenn alle Menschen um uns herum uns im Stich lassen. Wei der Vater im Himmel seinem Sohn damals nicht geholfen hat, darum dürfen wir allezeit und in Ewigkeit mit Gottes Hilfe rechnen. Weil Jesus damals auf der untersten Stufe als Allerverachtetster die Schmach des Kreuzes und der Gottverlassenheit ertragen hat, hat sich unser Herr als mächtigster König und größter Sieger aller Zeiten erwiesen. Noch einmal: Bei Jesus gehört beides unmittelbar zusammen, die Einsamkeit als König und die Einsamkeit als Hingerichteter. Man erniedrigte ihn, indem man ihn am Kreuz hoch aufrichtete. Indem er das zuließ und sich selbst erniedrigte, wurde er von seinem himmlischen Vater als Herr über alle Herren erhöht. Beides zusammen hat er angekündigt mit dem Wort an seine Jünger, das als Wochenspruch für die Karwoche ausgewählt wurde: „Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben“ (Joh. 3,15‑15). So bleibt uns nur, diesem König zuzujubeln, Hosianna zu rufen und zu singen: „Das Kreuz ist der Königsthron, / drauf man dich wird setzen, / dein Haupt mit der Dornenkron / bis in' Tod verletzen. / Jesus, dein Reich auf der Welt / ist ja lauter Leiden; / so ist es von dir bestellt / bis zum letzten Scheiden.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |