Jerusalem

Predigt über Markus 14,57‑59 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Zwischen Gethsemane und Golgatha liegt Jerusalem – nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich. Nachdem man Jesus in Gethsemane gefangen genommen hatte, brachte man ihn nach Jerualem. Und als er dort zum Tode verurteilt worden war, führte man ihn hinaus zur Hin­richtungs­stätte Golgatha. In den Stunden dazwischen wurde er in drei ver­schiedenen Palästen Jerusalems von vier Richtern fünfmal vernommen. Erst brachte man ihn zum Palast des Hohen­priesters. Dort wurde er von Hannas, dem alten Ehren-Hohen­priester, vorverhört. Dann versammelte sich am selben Ort der jüdische Ältesten­rat, die 70 Mitglieder des sogenannten Hohen Rates, unter Leitung des amtierenden Hohen­priesters Kaiphas. In den frühen Morgen­stunden des Freitags brachte man Jesus zum römischen Statthalter Pontius Pilatus in dessen Palast. Als der hörte, dass Jesus aus Galiläa stammt, überwies er den Fall an den gali­läischen Regenten Herodes Antipas, der zum Passafest nach Jerusalem gekommen war. Der schickte Jesus wieder zu Pilatus zurück, und Pilatus verurteilte ihn dann schließlich zum Tode.

Wir sehen: Beim Leidensort Jerusalem kommt es eigentlich nicht auf die Stadt als solche an, sondern auf die Menschen darin, denen Jesus gegenüber­steht. Diese Fest­stellung hat grund­legende Bedeutung und hilft, das ganze biblische Zeugnis über Jerusalem besser zu verstehen: Jerusalem, die „Tochter Zion“, meint eigentlich Menschen, eine Einwohner­schaft, ein Volk. Es sind Menschen, denen Gott ganz nahe gekommen ist – mit dem Tempel, den er dort errichten ließ, und mit seinem ein­geborenen Sohn, der dorthin gekommen war. Zugleich sind es aber Menschen, die sich weit von Gott entfernt haben. Als Jesus noch predigend durchs Land zog, hat er immer wieder ihre Schuld heraus­gestellt und auch Tränen vergossen über sie, denn sie waren im Begriff, ihre Chance zur Umkehr zu versäumen. Wir können noch weiter gehen und sagen: Jerusalem steht nicht nur für verstockte Menschen in der räumlichen Nähe des Tempels, sondern Jerusalem ist ein Sinnbild für alle Menschen: Gott kommt ihnen so nahe mit seiner großen Liebe, sie aber wenden sich von ihm ab und schlagen seine Hilfe aus. Ja, das ist ein großer Kummer bis zum heutigen Tag; daran leidet nicht nur Jesus selbst, sondern der ganze Leib Christi, alle Gläubigen auf Erden. Die Menschen, die Jesus damals in den Gerichts­verhand­lungen Unrecht taten und Leid zufügten, sind durchaus keine abnormen Bösewichte, sondern letztlich Menschen wie du und ich. Die Sünde, die sich bei ihnen zeigte, schlummert im Keim auch in unseren Herzen. Darum müssen wir mit­bekennen: Auch wir haben dazu bei­getragen, Jesus ans Kreuz zu bringen – wir mit unsrer Sünde.

Nun aber zurück zu den Ereignissen damals in Jerusalem. Nach dem Vorverhör durch Hannas wurde Jesus dem Hohenpriester Kaiphas und dem ganzen Hohen Rat vorgeführt. Die meisten dieser ehrwürdigen Ratsherren hatten in ihrem Herzen bereits den Stab über Jesus gebrochen: Er ist ein Gottes­lästerer und Hoch­stapler, ein frecher Lügner, der angibt, direkt von Gott aus dem Himmel gekommen zu sein! Sie ließen sich dabei von ihren Voruteilen leiten. Sie hielten es nicht für möglich, dass das, was Jesus sagte, der Wahrheit entspricht. Ach ja, wie hartnäckig halten auch wir an Vorurteilen und einmal gefassten Meinungen fest, besonders, wenn es um die Beurteilung anderer Menschen geht! Wie schwer haben es Menschen, die wir nicht mögen, unser Vertrauen zu gewinnen!

Nun durfte das Urteil über Jesus aber nicht aufgrund offen­sichtlicher Vorurteile gefällt werden, sondern man musste ihm einen Anstrich von Gerechtig­keit geben. Man brauchte also einen Vorwand, unter dem man Jesus verurteilen konnte. Darum bestach man einige gewissen­lose Leute, dass sie gegen Jesus aussagen. Allerdings sollten ihre Lügen nicht zu plump sein, sondern sie mussten glaubwürdig klingen. Jesus hatte einmal geäußert: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten“ (Joh. 2,19). Aus diesem Satz machten die falschen Zeugen nun die Anklage, er wolle den Tempel abreißen. Abgesehen davon, dass Jesus bildhaft von seinem Leib, von seinem Tod und von seiner Auf­erstehung gesprochen hatte: Nicht er wollte den Tempel abreißen, sondern er prophe­zeite, dass die Juden selbst ihn abreißen würden! Genau das haben sie ja dann auch gemacht – im über­tragenen Sinn: Sie haben den Leib Jesu „ab­gerissen“ und in den Tod gegeben. Ach ja, auch hier können wir uns ein Stück weit selbst wieder­erkennen. Manchmal drehen wir anderen Menschen ihre Worte im Munde herum und deuten sie wider besseres Wissen nicht zum Guten, sondern zum Bösen – wie die falschen Zeugen vor dem Hohen Rat. Und ebenso wie sie lassen wir uns leicht von anderen zum Bösen überreden, besonders dann, wenn uns irgend­welche Vorteile winken.

Aufgrund von Vorurteilen und Vorwänden war das Urteil über Jesus schon gefällt, als die Verhand­lungen kaum begonnen hatten. Der Hohe Rat suchte jetzt nur noch eine Möglich­keit, das Todesurteil rechts­kräftig werden zu lassen. Weil Israel damals von den Römern besetzt war, durften die Juden nur bestimmte Angelegen­heiten selbständig regeln; für Todes­urteile brauchten sie die Zustimmung der Römer. Deshalb wurde Jesus am Freitag­morgen zum Palast des Pontius Pilatus geschleppt. Aber die führenden Juden wussten: Gottes­lästerung ist für den heidnischen Statthalter kein todes­würdiges Verbrechen, darum muss man es anders darstellen. So behaupteten sie: Jesus macht sich eigen­mächtig zum König der Juden und wird damit zum Feind des römischen Kaisers. Hochverrat lautete die Anklage also nun. Pilatus hatte viel Lebens­erfahrung und durch­schaute die Strategie der Juden. In einem kurzen Verhör stellte er fest, dass Jesus aus Galiläa stammte, und hatte nun einen Vorwand, ihn an den Regenten von Galiläa zu überweisen, an Herodes Antipas. So meinte Pilatus, die Ver­antwortung schnell wieder los zu sein. Herodes selbst aber war die Ver­antwortungs­losigkeit in Person. Für ihn war das Königsein haupt­sächlich eine gute Gelegen­heit, in Saus und Braus zu leben. Er freute sich insofern über Jesu Kommen, weil er diesen spiri­tuellen Star schon längst persönlich kennen­lernen wollte. Er hoffte, dass Jesus ihm irgendein Wunder vormacht; das wäre sehr unter­haltsam gewesen. Aber Jesus tat ihm nicht diesen Gefallen. Da schickte Herodes Jesus kurzerhand wieder zu Pilatus zurück. Der versuchte nun mit allen Mitteln, Jesus und damit die Ver­antwortung los­zuwerden. Das gelang ihm aber nicht, denn die führenden Juden hatten inzwischen De­monstran­ten organi­siert, die in Sprech­chören die Kreuzigung forderten. Da fürchtete Pilatus, dass es zu einem Aufstand kommt und er Ärger mit Rom kriegt. So verurteilte er Jesus wider besseres Wissen zum Tode. Noch zum Schluss de­monstrier­te er öffentlich, dass er keinerlei Ver­antwortung übernehmen möchte. Er wusch sich vor aller Augen die Hände und zeigte damit: Ich bin unschuldig am Tod dieses Mannes. Von daher kommt die Redewendung „seine Hände in Unschuld waschen“. Ja, auch diese Neigung kennen wir in unserm eigenen Herzen: dass wir uns distan­zieren, wenn es brenzlig wird; dass wir Ver­antwortung abgeben, wo wir sie hätten tragen sollen; und dass wir unsre Hände in Unschuld waschen.

Vorurteile, Vorwände und Ver­antwortungs­losigkeit kenn­zeichnete die Menschen, die Jesus in Jerusalem zum Tode ver­urteilten. Vorurteile, Vorwände und Ver­antwortungs­losigkeit sind ganz allgemein Gemüts­regungen, die in den Herzen von Sündern schlummern, auch in unsern Herzen. Jesus ist traurig darüber; er hat über Jerusalem geweint. Und wenn Jesus sich wie ein normaler Mensch verhalten hätte, dann hätte er sich wohl angewidert abgewandt von solch hoffnungs­losen Fällen. Das hat er aber nicht getan. Er hat es aus­gehalten, bei diesen Menschen in Jerusalem zu sein. Er hat es aus­gehalten, dass man aufgrund von Vor­urteilen, Vorwänden und Ver­antwortungs­losigkeit ein so himmel­schreiend ungerechtes Urteil über ihn sprach. Er hat es aus­gehalten, dass man ihn in den Ver­handlungs­pausen grausam miss­handelte, anspuckte, ver­spottete, verprügelte und mit einem Kranz aus Dornen­zweigen krönte. Und er hat für diese Sünder damals ebenso wie für uns Sünder heute das Wertvollste dahin­gegeben, was er besaß: sein Leben. „Tausend‑, tausendmal sei dir, / liebster Jesu, Dank dafür.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2012.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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