Behütet auf allen Wegen

Predigt über Psalm 91,11‑12 zum Sonntag Invokavit

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Eine fromme ältere Frau wohnte mit ihren Kindern und Kindes­kindern zusammen. An einem Sonntag­morgen im Winter hatte es Blitzeis gegeben; die Straßen waren spiegel­glatt. Die Frau versäumte nie einen Gottes­dienst und wollte sich daher auch an diesem Tag auf den Weg zur Kirche machen. Ihre Kinder und Kindes­kinder warnten: Das ist viel zu gefährlich; lass uns heute lieber zu Hause bleiben! Die Frau machte sich trotzdem auf den Weg. Sie meinte, Gott werde sie auf diesem heiligen Gang schon beschützen. Sie vertraute ihrem Schutz­engel, dass er ihren Füßen sicheren Halt geben oder zumindest, falls sie doch ausrutschen sollte, sanft auffangen würde. Vielleicht dachte sie an das Psalmwort, das wir eben als Predigttext gehört haben: „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Es war wirklich sehr glatt. Die Frau kam nicht weit. Sie rutschte aus, fiel hin und zog sich einen kompli­zierten Bruch zu, der sie lange Zeit ans Bett fesselte.

Wenn man solche Geschichten hört, dann kann einen dieses Psalmwort eher anfechten als trösten. Hat der Schutzengel hier versagt? Hat Gott zuviel versprochen in seinem Wort? Oder wollte er dieser Frau eins auswischen, wollte er sie für irgend­welche verborgenen Sünden strafen? Für alle Christen, die schlimme Unfälle erlebt haben, ist dieses Psalmwort zunächst eher eine Anfechtung als ein Trost. Es scheint dann eher ein Teufelswort zu sein als ein Gotteswort.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, er­staunlicher­weise ist dieser Satz von den Engeln in der Tat beides: Gotteswort und Teufels­wort! Zwar ist es uns durch den Heiligen Geist und den Psalm­dichter von Gott offenbart worden, aber der Teufel gebraucht es, um Gläubige an Gottes Güte irre zu machen – oder auch, um sie zum Leichtsin zu verführen. Wir haben heute in der Evangeliums­lesung eine Geschichte gehört, wo der Teufel dieses Psalmwort mit böser Absicht in den Mund genommen hat. Er hat Jesus dazu auf­gefordert, sich an der steilsten Stelle des Jerusalemer Tempelbergs hinab­zustürzen und auf diese Weise aus­zuprobie­ren, ob Gott ihn wirklich beschützt. In diesem Zusammen­hang sagte der Teufel: „Es steht ge­schrieben: Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben, und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an eine Stein stößt“ (Matth. 4,6). Da wurde aus dem Gotteswort ein Versuchungs­wort des Teufels.

Wo ist nun der Haken bei der Sache? Stimmt das Psalmwort und ist es ein göttlicher Trost, oder stimmt es nicht und ist es eine Anfechtung des Teufels? Hat sich die fromme Frau, die bei Glatteis zur Kirche wollte, vom Teufel zu Leichtsinn verführen lassen? Oder war es doch richtig, dass sie sich im Vertrauen auf Gottes Schutzengel auf den Weg machte? Das sind ziemlich knifflige Fragen.

Wir können sie lösen, wenn wir uns klar machen, dass Bibelworte keine Zauber­sprüche sind. Die Bibel selbst lehrt uns: Gottes Wort ist nur dann wahr und segens­reich, wenn Menschen ihm vertrauen und es im Gesamt­zusammen­hang der Heiligen Schrift verstehen. Wenn Bibelworte aus ihrem Zusammen­hang gerissen und böswillig gedeutet werden, dann kann sich ihre Bedeutung schnell ins Gegenteil verkehren, und es werden Teufels­worte daraus. Auch bei unserem Psalmwort ist beides nötig, um es richtig zu verstehen: erstens das Vertrauen, zweitens die Beachtung des Zusammen­hangs.

Tun wirs also! Betrachten wir dieses Wort erstens mit großem Vertrauen – mit einem so großem Vertrauen, wie der alte kinderlose Abraham Gottes Verheißung annahm, dass aus seinen Nachkommen einmal ein großes Volk entstehen würde. Vertrauen geschieht nämlich immer gegen den äußeren Anschein. Wenn es nie Unglücks­fälle gäbe, brauchten wir nicht Gottes Wort zu vertrauen, dass er uns behütet, denn dann wäre das ja sowieso allen offen­sichtlich. Weil es aber immer wieder zu Unglücks­fällen kommt, möchte Gott, dass wir ihm gegen den Augenschein vertrauen, allein auf seine Zusage hin, allein auf sein Wort hin. Wenn wir das tun, dann müssen wir staunen. Wir dürfen einen Blick hinter die Kulissen unserer Welt werfen. Da erleben wir in diesem Offen­barungs­wort Gott, wie er mit seinen Engeln am Konferenz­tisch sitzt und ihnen Aufträge erteilt. Und nun stell dir vor, da fällt dein Name! Du kommst vor in dieser himmlischen Konferenz! Gott gibt seinen Engeln dir zugute einen Befehl. Er befiehlt ihnen: Behütet diesen Menschen; achtet sorgsam auf ihn; tragt ihn auf Händen; passt auf, dass er nicht stolpert und zu Fall kommt! Ja, das wollen wir mit grenzen­losem Vertrauen zur Kenntnis nehmen: So gut ist Gott, so lieb hat er uns! Und er meint es ganz ernst: Uns soll nichts Böses geschehen.

Und nun kommt das Zweite, was nötig ist, um das Wort richtig zu verstehen: die Beachtung des Zusammen­hangs. Erst der Zusammen­hang des ganzen 91. Psalms und darüber hinaus die Gesamtlehre der Heiligen Schrift öffnet uns die Augen dafür, was Gott uns hier mitteilen will. Gegen Ende des Psalms sagt Gott über den, der ihm vertraut: „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn heraus­reißen und zu Ehren bringen. Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil“ (Psalm 91,15‑16). Da erfahren wir: Gott erspart uns keineswegs alle Nöte, aber er ist bei uns in der Not! Gläubige können durchaus ganz schlimme und schmerz­hafte Erfahrungen machen, aber sie dürfen fest damit rechnen: Gott ist da, Gott ist nah, Gott lässt mich nicht im Stich. Mehr noch: Gott wird mich heraus­reißen; die Not wird nicht ewig währen. Ewig währen wird aber mein Leben, denn ich bin erlöst durch den Herrn Jesus Christus. Mag die Not auch noch so groß sein, Gottes Heil hat das letzte Wort und wird mich zur ewigen Seligkeit geleiten. Paulus hat solches Vertrauen im Römerbrief wunderbar zum Ausdruck gebracht. Er schrieb: „Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlich­keit, die an uns offenbart werden soll“ (Römer 8,18). Darüber hinaus war er überzeugt davon, dass auch Not und Leiden ihren Sinn haben in Gottes Plan; für denjenigen, der sie im Glauben erträgt, stellen sie letztlich sogar eine be­reichern­de Erfahrung dar. Er schrieb: „Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“ (Römer 8,28). Überhaupt lehrt uns die Heilige Schrift an vielen Stellen: Aufs Ende musst du schauen, aufs von Gott verheißene Ende! Dann wirst Du auch in Leid und Not nicht den Mut verlieren, sondern darauf vertrauen, dass alles seinen Sinn hat in Gottes Plan und dir letztlich zum Guten dienen muss. Seht, so lehrt uns der biblische Zusammen­hang, das Psalmwort von den Engeln recht deuten. Es ist nicht die Aufgabe der Engel, dich vor jeder Schramme, jedem Knochen­bruch und jeder Krankheit zu verschonen, aber es ist ihre Aufgabe, dein Leben für die Ewigkeit zu bewahren. Es ist ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dein Glaube nicht stolpert und dass du an Gott nicht irre wirst. Den Engeln ist es zu verdanken, dass Leid und Not nicht Stolper­steine auf deinem Weg sind, sondern Meilen­steine auf dem Weg durch die Zeit in die Ewigkeit.

Der Teufel hat Jesus mit diesem Psalmwort versucht, aber Jesus ist ihm nicht auf den Leim gegangen. Vielmehr ist Jesus uns zum Vorbild geworden, wie man mit solcher Versuchung umgeht. Zunächst hat er dem Teufel eine Abfuhr erteilt mit dem Gotteswort: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“ (Matth. 4,7). Sodann hat er darauf verzichtet, sich den Tempelberg hinab­zustürzen und die Leistungs­fähigkeit seines Schutz­engels zu testen. Dafür hat er sich in eine andere Gefahr begeben – aber nicht aus Leichtsinn, sondern aus Gehorsam gegenüber Gottes Willen. Er ist den schweren Weg nach Jerusalem gegangen, der Hochburg seiner Feinde. Er hat sich ihrem Hass ausgesetzt, ihrem Spott und ihrer Macht. Er ließ sich willig festnehmen, ver­urteilen, anspucken, aus­peitschen und schließlich ans Kreuz nageln. Die Engel holten ihn da nicht heraus, obwohl sie es leicht gekonnt hätten. Der himmlische Vater mutete seinem Sohn dieses schlimme Leiden zu. Und beide, der Vater und der Sohn, wussten: Das ist gut so, das dient zum Heil für die ganze Menschheit! Am Ende aber riss der Vater seinen Sohn heraus aus dem Tod, erweckte ihn von den Toten und gab ihm alle Macht im Himmel und auf Erden.

Und was bedeutet das nun im Hinblick auf die Frau, die beim Kirchgang ausrutschte und sich verletzte? Ich weiß nicht, was sie hinterher selbst dazu gesagt hat. Aber ich bin überzeugt: Gott hat dafür gesorgt, dass sie dabei nicht geistlich gestolpert ist und dass ihr Glaube dabei nicht zerbrochen ist. Mehr noch, ich bin überzeugt, das diese schmerz­hafte Erfahrung ihr und ihren Angehörigen letztlich zum Guten gedient hat. Vielleicht hat sie dadurch erkannt, dass sie bisher mit pharisäer­haftem Stolz nie einen Gottes­dienst versäumte, und Gott hat ihr diesen Hochmut nun aus­getrieben. Vielleicht hat sie ihren Angehörigen auf dem Kranken­lager auch ein schönes Zeugnis geben können, dass sie diesen Beinbruch aus Gottes Hand nimmt, ihn geduldig erträgt und gewiss ist: Gott war trotzdem bei ihr, auch wenn er das zuließ. Denn was auch immer geschieht – das Wichtigste ist, dass wir in jeder Lebenslage das Vertrauen nicht aufgeben, sondern damit rechnen: Gott ist da, Gott behütet mich durch seine Engel, Gott reißt mich heraus aus jeder Not und führt mich an Ende zur ewigen Seligkeit. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2012.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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