Die Wüste

Predigt über Markus 1,12‑13 zum Aschermittwoch

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Heute beginnt die Passions- oder Fastenzeit, ein Zeit­abschnitt von vierzig Tagen, in dem Christen sich auf das Leiden und Sterben ihres Herrn besinnen und in dem manche auch auf einiges Angenehme, das sie sich sonst gönnen, verzichten. Man kann diesen Zeit­abschnitt deshalb eine Wüstenzeit nennen, denn die Wüste ist ein Ort des Mangels und daher auch der Ent­behrungen. Jesus erlebte seine vierzig­tägige Wüstenzeit gleich im Anschluss an seine Taufe; diese Wüstenzeit Jesu ist das Vorbild unserer Fastenzeit. Allerdings ist unsere Fastenzeit eine freiwillige Wüstenzeit – jedenfalls seit der Reformation (im Mittelalter war das Fasten von der Kirche gesetzlich vor­geschrie­ben). Bei Jesus, so erfahren wir aus unserem Bibelwort, war die Fastenzeit nicht freiwillig. Es heißt: „Alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste“; wörtlich: er warf ihn hinaus in die Wüste. Das kann auch bei jedem von uns geschehen: dass Gott uns Lebens­abschnitte zumutet, in denen wir ge­zwungener­maßen auf Gewohntes verzichten müssen; das ist dann im Gegensatz zur Fastenzeit des Kirchen­jahres eine von Gott auferlegte Fastenzeit. Der himmlische Vater hat solch eine pflicht­mäßige Fastenzeit für seinen Sohnes gleich nach dessen Taufe beschlossen und sie ihm durch Treiben des Heiligen Geistes auferlegt. Es war sozusagen die Passionszeit beziehungs­weise Leidenszeit Jesu vor seinem Wirken in der Öffentlich­keit, während sein Leiden und Sterben in Jerusalem die Passions­zeit nach seinem Wirken in der Öffentlich­keit bildete. Und der Ort dieser Leidenszeit vorher war, wie gesagt, die Wüste.

Johannes der Täufer hatte Jesus am Südlauf des Jordans getauft. Die Wüste, in die Jesus an­schließend kam, lag im an­grenzenden Bergland Judäas. Es war also keine Sandwüste wie die Sahara, sondern eine Fels- und Steinwüste. Das griechische Wort für Wüst heißt „eremos“, das bedeutet „verlassen“ oder „leer“. Das Fremdwort „Eremit“ hängt damit zusammen; das ist ein Einsiedler, der in einer menschen­leeren Gegend wohnt. In dieser Steinwüste im judäischen Bergland gab es wenig Regen, folglich wenig Pflanzen, folglich kaum Menschen und keine Ort­schaften. Eine Wüste ist immer ein Ort des Mangels. Jesus lernte an diesem Ort, auf Wasser und Nahrung zu verzichten; er lernte fasten, er lernte Genügsam­keit. Auch diese Leidens­erfahrung gehört zur Selbst­erniedri­gung, die der Gottessohn auf sich nahm, um uns zu erlösen. Diese Genügsam­keit kann uns zum Vorbild dienen. Egal ob wir in der Fastenzeit freiwillig auf etwas verzichten oder ob uns Gott eine Zeit des Mangels auferlegt: Sie kann uns lehren, dass das tägliche Brot nicht das Wichtigste im Leben ist. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch von Gottes Wort. Genügsam­keit kann uns auch Dankbarkeit lehren für all die guten Gaben Gottes, mit denen er uns sonst reichlich versorgt, wenn keine Wüstenzeit ist. Lasst uns das also als Erstes lernen von Jesus in der Wüste: die Genüg­samkeit.

Weil die Wüste ein einsamer Ort ist, leben dort wilde Tiere. Sie sind menschen­scheu und ziehen sich deshalb dorthin zurück. In der Wüste im judäischen Bergland gab es zu biblischen Zeiten sogar Löwen. Unser Bibelwort berichtet aus­drücklich davon, dass Jesus „bei den wilden Tieren“ war. Die Wüste war gefährlich – besonders gefährlich, weil Jesus diesen wilden Tieren allein aus­geliefert war. Wir können annehmen, dass er Angst bekam, wenn er nachts hörte, wie das Brüllen der Löwen von den Felswänden wider­hallte. Jesus ist ja ein Mensch geworden wie du und ich; auch die Angst war ihm nicht fremd; auch sie gehörte zu den Leiden und zur Selbst­erniedri­gung des Gottes­sohns. In solchen Stunden lernte Jesus, sich auf die Geborgen­heit zu besinnen, die sein himmlischer Vater ihm gab. Er wird viel gebetet haben und dann ganz ruhig geworden sein, weil ihm bewusst wurde: Es wird mir kein einziges Haar gekrümmt werden, wenn es nicht Gottes Willen entspricht. Solche Geborgen­heit können auch wir lernen. Zwar sind es keine Löwen, die uns ängstigen, aber doch mutet Gott auch uns so manche Wüsten­erfahrung von Gefahr und Angst zu. Lasst uns das also als Zweites lernen von Jesus in der Wüste: die Geborgen­heit.

Der Apostel Petrus schrieb in seinem 1. Brief: „Euer Wider­sacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er ver­schlinge. Dem widersteht, fest im Glauben“ (1. Petrus 5,8‑9). Wie die Löwen in der Wüste den Leib Jesu bedrohten, so bedrohte der Teufel die Seele Jesu. Bei Markus ist nur kurz erwähnt, was von Matthäus ausführlich berichtet ist: „Er wurde versucht von dem Satan.“ Ja, auch das gehörte zum Menschsein und zur Er­niedrigung des Gottes­sohnes dazu. Im Hebräer­brief lesen wir: „Er ist versucht worden in allem wie wir“ (Hebr. 4,15). Eine dieser Ver­suchungen hatte unmittelbar mit der Wüste zu tun: Der Teufel forderte den hungrigen Jesus auf, ein Wunder zu wirken und die vielen Steine um sich herum in Brot zu verwandeln. Jesus antwortete ihm mit dem Schrift­wort: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes geht“ (Matth. 4,4). Jesus wusste: Es kommt jetzt nur darauf an, Gottes Wort treu zu bleiben und nicht eigen­mächtig gegen den Willen des Vaters ein Wunder zu tun. So lernte Jesus in den 40 Wüstentagen Gehorsam. Das ganze Volk Israel hatte seinerzeit in 40 Jahren Wüsten­wanderung ebenfalls Gehorsam gelernt. Und Mose musste erst vierzig Jahre lang als Nomade in der Wüste leben, bevor Gott ihn zum Befreier seines ge­knechteten Volkes berief. Auch wir können in den Wüsten­erfahrungen unseres Lebens Gehorsam lernen. Wir können lernen, den Ver­lockungen des Satans zu widerstehen und Mangel zu ertragen, wenn das Gottes Wille für unser Leben ist – sei es der Mangel an Geld und Gut, sei es der Mangel an Gesundheit oder sei es sonst ein von Gott auferlegter Mangel. Gehorsam sein heißt in solchen Situ­ationen, nicht unzufrieden werden, sondern Gott auch im Mangel und im Leid preisen. Lasst uns das also als Drittes den Gehorsam lernen von Jesus in der Wüste.

Die Wüste ist nicht nur ein Ort der negativen Er­fahrungen. Einsamkeit und Mangel können auch ihre guten Seiten haben. Nicht nur der Teufel tritt in der Wüste auf, sondern auch die Engel. Wir lesen in unserem Bibelwort: „Die Engel dienten ihm.“ Jesus hat auch in späteren Jahren immer wieder einsame Orte aufgesucht, um zu beten und um die Nähe Gottes besonders intensiv zu erfahren. Die Leere der Wüste und die Erfahrung des Mangels können dazu beitragen, dass ein Mensch nicht abgelenkt wird und sich ganz in Gott versenken kann. Jesus hat später seine Jünger in dem Sinne gelehrt, dass das Fasten eine gute äußere Hilfe zum Gebet sein kann. Ja, so hat Jesus in der Wüste wohl selbst das ganz intensive Gebet gelernt und die damit einher­gehende Erfahrung, dass Gott und die Engel gegenwärtig sind. Auch wir können das lernen – vor allem, wenn wir uns zu einem Lärmfasten durch­ringen. Es ist gut, hin und wieder ganz zur Ruhe zu kommen, ohne Zeitdruck, ohne Radio und Fernsehen, ohne Gespräche mit anderen Menschen, ganz in der Stille, ganz einsam, im „stillen Kämmer­lein“. Ja, da können wir dann das intensive Gebet lernen und im Nachdenken über Gottes Wort seine Nähe erfahren. Gerade die Passions­zeit eignet sich dafür, und die Passions­andachten können dabei wertvolle Anregungen geben. Lasst uns das also als Viertes lernen von Jesus in der Wüste: das intensive Gebet.

Der geistliche Reichtum, der uns damit geschenkt wird, wiegt unendlich schwerer als alle Un­bequemlich­keiten, die die Ent­behrungen der Wüste mit sich bringen. So hat der himmlische Vater seinen ein­geborenen Sohn in der Wüste auf seinen Dienst vor­bereitet, und so bereitet er uns auf seliges Leben und seliges Sterben vor: Er lehrt uns Genüg­samkeit, Geborgen­heit, Gehorsam und Gebet. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2012.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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