Von Bäumen lernen

Predigt über Psalm 1,1‑3 zum Sonntag Quasimodogeniti

Liebe Freunde!

Viele Menschen machen sich heute über die Arbeit Gedanken. Man wünscht sich, dass jeder Gelegenheit dazu findet, dass sie angemessen honoriert wird, dass sie erfolgreich ist, dass sie Freude macht. Es gibt eine Tätigkeit, die all diese Wünsche erfüllt: Das ist die Bibel­arbeit, das Mühen um das Verstehen von Gottes Wort. Davon handeln die ersten Verse von Psalm 1. Die Menschen, die sich intensiv mit der Heiligen Schrift be­schäftigen, werden da mit Bäumen verglichen, die direkt am Wasser stehen und ent­sprechend gut gedeihen. Lasst uns also heute von Bäumen lernen, und lasst uns dabei den gesegneten Gebrauch der Bibel zugleich einüben. Konkret: Wir wollen diese Psalmverse jetzt nicht nur einfach hörend zur Kenntnis nehmen, sondern wir wollen uns um ihr Verständnis mühen, wollen sie gewisser­maßen als Übungslabor benutzen, als Arbeitsfeld zum Einüben in den sorg­fältigen und gesegneten Umgang mit Gottes Wort.

Die Eingangstür zu diesem Labor ist das Gebet. Am Anfang der Arbeit mit der Bibel sollte immer die Bitte um den Heiligen Geist stehen. Wir haben Gottes Geist nötig, der uns die Augen öffnet und zum richtigen Verständnis anleitet. So beten wir: Komm, Heiliger Geist, zieh jetzt bei uns ein. Öffne uns das Verständnis für Gottes Wort. Schenke uns dabei Freude, Glaubens­kraft und Liebe. Amen.

„Wohl dem“, so beginnt der Psalm. „Wohl dem“, so beginnen 85 Sätze in der Bibel! Gleich zu Anfang erfahren wir, dass das Bibel­studium keine vergebliche Mühe ist, sondern dass dem Hörer bzw. Leser großer Gewinn versprochen wird. Jesus hat in seiner Bergpredigt zehnmal hinter­einander Sätze mit „wohl dem“ gebildet, oder anders übersetzt: „Selig sind“; diese Sätze sind als „Selig­preisungen“ berühmt geworden. Wohl dem Menschen; glücklich kann er sich preisen; freuen kann er sich; selig ist er – all das ist mit diesem Begriff gemeint! Beim Wort „selig“ hören wir heraus, dass es sich nicht um einen ver­gänglichen Ertrag von Arbeit handelt und auch nicht um zeitlich begrenzten Erfolg, sondern dass Gottes Wort ewige Ver­heißungen bereit hat für den, der es annimmt – die ewige Seligkeit!

Was charakte­risiert den Menschen, dem diese Ver­heißungen gelten? Zunächst wird negativ abgegrenzt, was er nicht tut: Er „wandelt nicht im Rat der Gottlosen“, er „tritt nicht auf den Weg der Sünder“, er „sitzt nicht, wo die Spötter sitzen“. Wenn man diese Aussagen nur ober­flächlich hört, dann könnte man sie so verstehen: Wohl dem, der keinen Umgang mit gottlosen Menschen hat. Zur Zeit Jesu haben die Pharisäer das tatsächlich so verstanden und haben einen großen Bogen gemacht um alle, die nicht so fromm waren, wie sie sich selbst zu sein ein­bildeten. Noch heute gibt es solche Pharisäer, auch wenn sie nicht mehr „Pharisäer“ heißen. Wenn wir diese Worte aber richtig verstehen wollen, dann müssen wir uns an besseren Vorbildern orientieren – zuallererst am Vorbild unseres Herrn Jesus Christus selbst. Hat der etwa eine großen Bogen um gottlose Menschen gemacht? Mitnichten! Er hatte keinerlei Berührungs­ängste. Er war sogar bereit, Huren und Hals­abschnei­der in ihren Häusern zu besuchen – das hat man ihm von seiten der Pharisäer sehr übel genommen. Hat sich Jesus etwa über die Emp­fehlungen des 1. Psalms hinweg­gesetzt? Nein, hat er nicht. Wir müssen genau hinsehen! Da steht nicht: „Wohl dem, der keinen Umgang mit Gottlosen pflegt“, sondern da steht: „Wohl dem der nicht wandelt im Rat der Gottlosen.“ Das heißt: der sich für seinen Lebens­wandel nicht Rat holt von Leuten, die Gott nicht kennen, sondern der sich direkt aus Gottes Wort Rat holt sowie auch von denen, die schon länger mit Gottes Wort gelebt haben. Und da steht: „Wohl dem, der nicht tritt auf den Weg der Sünder.“ Das heißt: der nicht blindlings dem Lebens­wandel der Sünder folgt und dabei in jeden Sünden-Fettnapf hinein­tritt, in den diese auch treten. Und da steht: „Wohl dem, der nicht sitzt, wo die Spötter sitzen.“ Das heißt: der seinen geistigen Wohnsitz und Lebens­mittelpunkt nicht im Kreis derer hat, die Gottes Wort anzweifeln oder die über heilige Dinge nur Witze machen. Es geht in diesem ersten Vers von Psalm 1 also darum, welche Haupt­richtung unser Lebensweg hat und wo wir verwurzelt sind. Das ist gemeint – nicht aber, dass wir Nicht-Christen meiden sollten, als hätten sie ansteckende Krank­heiten. Wenn Christen keinen Umgang mehr mit Nicht-Christen pflegten, wer sollte ihnen denn dann die Liebe Gottes bringen?

Im zweiten Vers kommt der Psalm zur Sache: „Wohl dem, der Lust hat am Gesetz des Herrn.“ Im hebräischen Urtext finden wir das Wort „Thorah“ für „Gesetz“, das umfasst viel mehr als nur Gebote: Thorah heißt „Unter­weisung“ oder „Lehre“. Es geht also nicht nur um göttliche Gesetze, sondern es geht hier in jeder Hinsicht um Gottes Wort: Wohl dem, der Lust hat an Gottes Wort schlecht­hin! Ja, Bibelarbeit kann richtig Spaß machen, wenn man sich erst einmal ein­gearbeitet hat. Es ist wie die Ent­deckungs­reise auf einen neuen Kontinent. Aus eigener Erfahrung sage ich: Die Be­schäftigung mit Gottes Wort kann fast süchtig machen. Ich halte es für ein großes Vorrecht und ein wunderbares Geschenk, dass ich als Pfarrer dafür bezahlt werde, die Bibel gründlich zu studieren und anderen davon weiter­zusagen. Aber auch der, der sich nur in seiner Freizeit mit Gottes Wort be­schäftigen kann, wird etwas von dieser Lust und Freude spüren, wenn er es nur ernsthaft betreibt und sich wirklich hinein­vertieft.

Um das Hinein­vertiefen geht es bei der nächsten Aussage: „Wohl dem, der über Gottes Wort sinnt Tag und Nacht.“ Auch beim Wörtchen „sinnt“ lohnt es sich, tiefer zu bohren. Wenn man zu der ent­sprechenden hebräischen Vokabel Nach­forschungen anstellt, dann stößt man zunächst auf tierische Geräusche: „knurren“, „brummen“, „gurren“ – das ist die ur­sprüngliche Bedeutung dieses Wortes. Es gibt aber auch die Übertragung auf den Menschen: Da sitzt jemand über eine Schrift­rolle gebeugt, den Kopf in den Arm gestützt, hoch­konzen­triert, und murmelt die heiligen Worte vor sich hin. Wieder und wieder liest er sie, bis sich ihr Sinn erschließt und sie sich tief in sein Gedächntis eingraben. Ein Außen­stehender versteht nichts; er vernimmt nur un­verständ­liches Gebrumm und Gemurmele. Seht, so „sinnt“ man über Gottes Wort nach! Also nicht so, dass die Augen nur schnell übers Papier huschen wie bei der flüchtigen Lektüre der Zeitung. Auch nicht so, dass beim Vorlesen der Bibel die Worte zu einem Ohr hinein- und zum anderen wieder hinaus­gehen. Nein, ganz gesammelt sollen wir sein, wenn wir die Heilige Schrift studieren. Geist, Seele und auch Leib sollen bei dieser Arbeit zusammen­wirken. Probiert es ruhig selbst aus: Es hilft zur Kon­zentration, wenn ihr in der stillen Zeit den Bibeltext euch selbst langsam halblaut vorlest oder wenigstens die Lippen bewegt.

„Tag und Nacht“ soll dies geschehen. Dabei geht es nicht um ein Bibellese-Marathon, der sich für ein Rekordebuch quali­fiziert. Es geht vielmehr darum, dass das Bibel­studium zur täglichen Übung für uns werden soll. Es soll seinen festen Platz im Tagesablauf haben. Wo es dann zeitlich tatsächlich verortet wird, ob frühmorgens oder am hellichten Tag oder in den Nacht­stunden oder auch mehrmals am Tag, das muss jeder nach den Gegeben­heiten seines Alltags und auch nach seinem eigenen Bio­rthythmus regeln. Nehmen wir aber ernst, dass Gottes Wort uns an allen Tagen unseres Lebens begleiten will. Die Bibel ist kein Roman, den man einmal durchliest und der dann im Regal verstauben kann. Sie ist auch kein Lexikon für Ethik und Lebenssinn, wo man schnell mal eben Antworten auf seine Fragen erhält. Nein, sie ist ein Buch, über das wir Tag für Tag nachsinnen sollen: „Wohl dem, der über Gottes Wort sinnt Tag und Nacht.“

Und nun kommen wir zum dritten Vers, zu diesem wunderbaren Vergleich mit dem Baum: „Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasser­bächen.“ Bäume, die direkt an Bächen wachsen, sind besonders kräftig und fruchtbar, denn ihre Wurzeln können zu allen Zeiten reichlich Wasser und Nährstoffe aus dem Boden saugen. Und wieder schauen wir genau hin: Es handelt sich hier nicht um ab­gestandenes Wasser aus irgendeinem Teich oder Tümpel, sondern es fließt dahin als frisches, lebendiges Wasser. Die Bibel vergleicht den Heiligen Geist mehrmals mit solch lebendigem Wasser. Der Geist aber ist es, der durch Gottes Wort in unser Leben strömt. Er schenkt uns Glauben, Hoffnung, Freude und Liebe. Gottes Wort ist in diesem Bild nicht einfach nur Lehre und In­formation, sondern es ist Lebens­mittel – die Grundlage für gesundes Wachstum und geistliche Fruchtbar­keit.

Vergleichen wir uns nun mit Bäumen, die an solchen geistlichen Wasser­bächen stehen! Da fällt uns zunächst auf (und wieder sehen wir genau hin!): Wir sind „ge­pflanzt“. Wir haben uns also nicht selbst ans Wasser verpflanzt, sondern Gott hat uns da hin­gepflanzt. Gott ist in unser Leben getreten mit dem Heiligen Geist, mit der frohen Botschaft von Jesus und mit dem Heiligen Taufe. Wir können uns nicht selbst dafür rühmen, dass wir Christen sind, wir können allein Gott rühmen, der uns in den schönen Garten seines Reiches ein­gepflanzt hat – direkt an den Wasser­bächen seines Wortes. Das Gute an dieser Erkenntnis ist: Unser Christsein beruht nicht auf unserer eigenen wankel­mütigen Ent­scheidung, so wie wenn ein Tier eben mal zum Wasser springt, weil es Durst hat. Unser Christsein beruht vielmehr auf Gottes ewigem Ratschluss, weil er selbst uns am Wasser ein­gepflanzt hat. Da können wir nun nach Herzenslust trinken und zusammen mit dem Wasser alles in uns aufsaugen, was uns wahres Leben bringt. Und wir überlegen weiter: Der Baum, der einmal gepflanzt ist, bewegt sich nicht mehr vom Fleck. Anders das Tier: Es trinkt aus dem Bach und springt davon; der Baum aber bleibt. Man könnte eine eigene Predigt halten zu den Wörtern „bleiben“, „sitzen“, „wohnen“, „verwurzelt sein“! Dies wird uns von Gottes Wort immer wieder ans Herz gelegt, und auch Jesus hat das immer wieder betont: Es geht nicht nur darum, dass wir zum Glauben finden, sondern es geht vor allem darum, dass wir in diesem Glauben dann auch bleiben, dass wir bis ans Ende beharren. Mancher Sturm mag durch die Krone des Baumes fegen, er mag sich dann hin‑ und herbiegen, aber wenn er fest verwurzelt ist an den Wasser­bächen, dann kann ihn nichts umpusten; er bleibt.

Das gesunde Leben der Bäume am Wasser bleibt nicht ohne Folgen. Das müssen nicht unbedingt große und spektakuläre Folgen sein. Diese Folgen müssen sich auch nicht sofort und zu jeder Zeit einstellen. Aber Gott verspricht: „Der bringt seine Frucht zu seiner Zeit.“ Wer in Gottes Wort verwurzelt ist, der beginnt allmählich, Gott so zu bekennen, wie er ihn in seinem Wort kennen­gelernt hat. Wer in Gottes Wort verwurzelt ist, der beginnt allmählich, so zu lieben, wie Jesus alle Menschen geliebt hat. Wer in Gottes Wort verwurzelt ist, der saugt die Freude des Evangeliums auf, die auch dann nicht stirbt, wenn man traurig ist. Wer in Gottes Wort verwurzelt ist, der ist eine immergrüne Pflanze: „Seine Blätter verwelken nicht.“ Und das bedeutet: Der hat das ewige Leben. An mehreren Stellen vergleicht das Alte Testament den sterblichen Mensch mit einem Grashalm oder einer Wiesen­blume, die nur kurze Zeit lebt und dann ver­trocknet. Der Mensch aber, den Gott erlöst hat, der gleicht nicht so einer Wiesen­blume, sondern einem Baum am Wasser, dessen Blätter nie ver­trocknen. Manche Bäume sind viele hundert Jahre alt und taugen daher gut als Bild für die Ewigkeit.

Schließlich heißt es dann noch ohne Bild von dem Menschen, der mit Gottes Wort lebt: „Was er macht, das gerät wohl.“ Dafür gibt es unzählige Beispiele, sowohl in der Bibel als auch außerhalb. Der Josef des Alten Testaments hat im Vertrauen auf Gott gelebt, darum segnete Gott sein Tun, und alles geriet ihm wohl. Dasselbe lässt sich von David sagen. Oder schauen wir uns die gesegnete Missions­tätigkeit des Apostels Paulus an, oder das Werk des Reformators Martin Luther! Auf viele trifft zu: „Was er macht, das gerät wohl.“ Trifft es aber auch auf uns zu, auf dich, auf mich? Ehrlich gesagt: Es fällt mir schwer zu behaupten, dass das, was ich tue, stets wohl gerät. Zu manchen Zeiten bin ich eher geneigt, das Gegenteil zu behaupten. Bin ich denn nicht am Wasser gewurzelt? Darf ich die Selig­preisung dieses Psalms nicht auf mich beziehen? Doch, ich darf. Ich bin ja getauft, Gott ist mir begegnet durch seinen Sohn Jesus Christus im Evangelium. Und was tut Jesus in meinem Leben? Das grundlegend Wichtige: Er tilgt meine Sünden! Das bedeutet: Alles, was ich tue und was nicht wohl gerät, das nimmt er mir ab in seinen bitteren Kon­sequenzen. Er hat es mir schon längst abgenommen; am Kreuz hat er es getan. Und er schenkt mir dafür seine Gerechtig­keit. Und er lehrt mich, so zu leben, wie Gottes Wort es sagt. Da entstehen dann vielleicht erst nur ganz zarte Knospen. Manche Knospen sind so klein dass man sie mit bloßem Auge kaum erkennen kann. Und doch sind sie vollkommen und schön, denn es sind Gottes Knospen, sie sind aus dem Wasser seines Geistes entstanden und aus den Nährstoffen seines Wortes. Nur diese guten Knospen lässt Gott stehen in meinem Leben, lässt sie weiter­wachsen und reifen; das Böse aber ist erledigt. Wenn ich das weiß, dann kann ich trotz allem auf mich beziehen, was hier gesagt ist: „Was er macht, das gerät wohl.“ Ich glaube es: Die Arbeit trägt gute Frucht. Die Mühe lohnt sich. Es macht Freude, als Gottes Kind zu leben. Wohl dem, der so lebt – aus der Kraft Gottes und seines Wortes. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2011.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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