Gegen geistlichen Autismus

Predigt über Philipper 1,3‑11 zum 22. Sonntag nach Trinitatis und zum Reformationsfest

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Autisten sind Menschen, die wie auf einer Insel leben. Sie können nur begrenzt mit der Welt um sich herum in Beziehung treten. Autismus ist eine Entwicklungs­störung, die nicht geheilt werden kann. In Anlehnung an diese allseits bekannte Behinderung möchte ich jetzt von einem geistlichen Autismus sprechen. Er ist weniger offen­sichtlich, aber er betrifft das Glaubens­leben vieler Christen in der heutigen Zeit. Mit ihrem Glauben leben sie wie auf einer Insel, sehen nicht nach links und rechts, nicht nach vorn und hinten. Es kommt vor, dass Christen sogar mit nahe­stehenden Menschen nicht über Gott reden: mit Eltern, Kindern, Freunden, Freun­dinnen, Nachbarn oder Arbeits­kollegen. So wie in früheren Gene­rationen das Sexualleben ein Tabuthema war, so ist in der heutigen Zeit für viele das Glaubens­leben ein Tabuthema. Sogar bei der Kirch­gliedschaft wirkt sich der geistliche Autismus vieler aus: Da gibt es Leute, die kennen ihre Mitchristen in der Gemeinde nicht und wollen sie auch gar nicht kennen­lernen; sie bleiben bewusst den Gottes­diensten und anderen Gemeinde­veranstal­tungen fern.

Diser geistliche Autismus ist zum Glück heilbar; die Therapie finden wir in Gottes Wort. Wir finden sie hier am Anfang des Briefes, den der Apostel Paulus ur­sprünglich für die christliche Gemeinde in Philippi geschrieben hat. Dabei hätte Paulus selbst allen Grund gehabt, sich in einen geistlichen Autismus zurück­zuziehen: Er war zu der Zeit nämlich ein Gefangener; wahr­scheinlich befand er sich gerade in Rom und stand dort unter Hausarrest. Sein aktiv gelebter Glaube und seine Missions­tätigkeit hatten ihn in diese Lage gebracht. Aber Paulus verkroch sich mit seinem Glauben nun keineswegs in ein Schnecken­haus, sondern machte das Beste aus seinen widrigen Lebens­umständen; er sah nach links, nach rechts, nach hinten und nach vorn.

Der geistliche Blick nach links und nach rechts zeigte dem Apostel, dass er auch als Gefangener mit seinem Glauben nicht allein war. Er kannte ja unzählige Christen in vielen Gemeinden, mit denen er sich auch jetzt noch brüderlich verbunden fühlte; dazu gehörten die Philipper. Diese Verbunden­heit bestand nicht nur in irgend­welchen Erinne­rungen und Gedanken an sie, diese Verbunden­heit äußerte sich vielmehr tagtäglich im Gebetsleben des Paulus. Er schrieb: „Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke – was ich allezeit tue in allen meinen Gebeten für euch alle, und ich tue das Gebet mit Freuden – ‚ für eure Gemein­schaft am Evangelium vom ersten Tag an bis heute.“ Wir sehen: Paulus tat in seinen Gebeten nicht nur Fürbitte, sondern auch Fürdank! Das ist sogar das Allererste, was er in seinem Brief nennt. Diese Verbunden­heit im Gebet überwindet Gefängnis­mauern und überbrückt weite Ent­fernungen. Diese Verbunden­heit im Gebet macht auch deutlich, was das Besondere an christ­licher Gemein­schaft ist: Sie besteht nicht durch Verwandt­schaft, Sympathie oder gemeinsame Interessen, sondern sie besteht durch das gemeinsame Anteilhaben am Evangelium von Jesus Christus. Die christliche Gemein­schaft ist ein stabiles Dreier-Bündnis mit den Eckpunkten Christus, Mitchrist, ich. Gemein­schaft im Glauben heißt, gemeinsam von Gott Beschenkte zu sein, Begnadete, Erlöste, zum ewigen Leben Berufene. Im Gottes­dienst und im Heiligen Abendmahl kommt diese Gemein­schaft besonders schön zum Ausdruck: im gemeinsamen Hören auf den Herrn, im Empfangen des Leibes und Blutes Jesu, im Gebet, in Fürbitte und Fürdank. Aber auch in der geschwister­lichen Liebe äußert sich diese Gemein­schaft, im gegen­seitigen Geben und Nehmen – je nachdem, wie einer Not oder Gaben hat. Auch die Philipper hatten ihren geistlichen Vater Paulus nicht vergessen. Sie wollten ihn in seiner schwierigen Lage unter­stützen und hatten ihm deswegen ein Geld­geschenk in seine Gefangen­schaft geschickt. Paulus erwiderte diese Gabe mit einem wunder­schönen geistlichen Geschenk, eben mit dem Philipper­brief, der viel Trost und Evangeliums­freude enthält. Darin gibt er den Philippern ein Zeugnis, wie verbunden er sich ihnen fühlte. Er schrieb: „Ich habe euch in meinem Herzen, die ihr alle mit mir an der Gnade teilhabt in meiner Gefangen­schaft und wenn ich das Evangelium verteidige und be­kräftige.“

Aber Paulus blickte nicht nur nach links und rechts, sondern auch nach hinten und nach vorn. Er blickte zurück auf die Anfänge der Gemeinde in Philippi und sprach von dem, „der in euch angefangen hat das gute Werk“. Er blickte voraus auf das Wieder­kommen Christi und die ewige Seligkeit, also auf das gemeinsame Ziel aller Christen. Im Blick auf dieses Ziel verhieß er, dass Gott das begonnene gute Werk auch vollenden wird bis an den Tag Christi. Er legte den Philippern ans Herz, zwischen diesem Anfang und diesem Ziel den Weg des Glaubens treu weiter­zugehen. Er wollte nicht, dass sie in geistlichem Autismus stehen­bleiben, sondern dass sie innerlich wachsen, sich entwickeln, Fort­schritte machen, reifen. Er schrieb ihnen daher auch: „Ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung, sodass ihr prüfen könnt, was das Beste sei, damit ihr lauter und unanstößig seid für den Tag Christi, erfüllt mit Frucht der Gerechtig­keit durch Jesus Christus zur Ehre und zum Lobe Gottes.“

Ebenso wie Paulus war auch Martin Luther kein geistlicher Autist. Manchmal wird das ja so verzerrt dar­gestellt, als ob Luther als Einzel­kämpfer und heraus­ragende Persönlich­keit das Werk der Reformation gestemmt hat. Das war aber keineswegs der Fall. Luther blickte sehr wohl nach links und nach rechts und nahm dankbar wahr, dass Gott ihm Gemein­schaft mit vielen Mitchristen und geistlichen Mit­streitern schenkte. Ohne sie hätte die Reformation nicht gelingen können. Bereits der Thesen­anschlag am 31. Oktober 1517 war keine einsame Protest­handlung, sondern eine Einladung an Mitchristen zum Gespräch. Luther wollte mit den Theologen seiner Zeit über den Ablass­handel disku­tieren, um dann gemeinsam unter Bibel­studium und Gebet Gottes Wahrheit zu erkennen. Als sich die Kirchen­oberen diesem Gespräch ver­weigerten und Luther sogar aus der Kirche aus­schlossen, da standen ihm viele andere Mitchristen bei. Da gab es den hoch­gelehrten Philipp Melan­chthon, der in allen Geistes­wissenschaf­ten zu Hause war und unter anderem das Haupt­bekenntnis der Reformation verfasste, die Augsburger Konfession. Da gab es den politischen Gönner und Beschützer Friedrich den Weisen, den Kurfürsten von Sachsen, der gegen Papst und Kaiser zu Luther hielt und mit kluger Bündnis­politik dafür sorgte, dass der mutige Reformator nicht als Ketzer auf dem Scheiter­haufen endete. Friedrich der Weise war es auch, der Luther bei einem vor­getäuschten Überfall eine Weile von der Bühne des Zeit­geschehens holte und ihn auf der Wartburg versteckte. Und dann will ich hier aus den vielen anderen noch Hans Lufft heraus­greifen, den Witten­berger Buch­drucker, Luthers Verleger. Er half mit, dass Luthers reforma­torische Schriften und vor allem auch seine Bibel­übersetzung sich in tausenden von Exemplaren schnell in ganz Europa aus­breiteten. Wir sehen: Das Evangelium kam durch die Reformation nur deshalb wieder ans Licht, weil Luther und seine Mitstreiter keine geistlichen Autisten waren, sondern weil sie unter dem einen Herrn und Heiland Jesus Christus ein mutiges Netzwerk bildeten. Diesem Netzwerk konnte der Teufel nichts anhaben.

Wie Paulus nach hinten und nach vorn gesehen hatte, so sah auch Luther nach hinten und nach vorn. Er hielt sich nicht autistisch für den Mittelpunkt aller christ­lichen Erkenntnis, sondern ging demütig bei den Aposteln und den Vätern der Kirche in die Schule. Er wollte nichts anderes lehren, glauben und bekennen, als was alle rechten Christen vor ihm bekannt hatten – ohne eigene Zusätze, aber auch ohne Abstriche. Die Reformation war für ihn keine Revolution und auch keine Einführung von Neuerungen, sondern das, was der Begriff eigentlich aussagt: eine Rück-Formation, eine Rück­formung, eine Rück­besinnung auf die eine aposto­lische Kirche und auf die Lehre der Apostel. Dabei hat Luther zu keiner Zeit die Reformation als ein ab­geschlosse­nes Werk betrachtet; das war sie ja auch nicht, so lange er lebte. Luther sah sich vielmehr immer auf dem Weg; er war ein Jünger, ein Lernender. Stets hat er die Bereit­schaft bekundet, sich auf der Grundlage der Heiligen Schrift eines Besseren belehren zu lassen und eventuelle Irrtümer zu revidieren. Bei diesem Weg stand ihm genau wie Paulus das herrliche Ziel der ewigen Seligkeit deutlich und strahlend vor Augen. Über dieses Unterwegs-Sein zwischen Gestern und Morgen hat Luther selbst ge­schrieben: „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Fromm­werden; nicht Gesundsein, sondern ein Gesund­werden; nicht Sein, sondern Werden; nicht Ruhe, sondern Übung. Wir sind es noch nicht, wir werden‘s aber. Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gang und Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es blüht und glänzt noch nicht alles, es bessert sich aber alles.“

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, Luther, Paulus und die Worte aus dem Philipper­brief sind auch für uns die richtige Medizin beziehungs­weise Prophylaxe gegen geistlichen Autismus. Wie wunderbar und tröstlich ist es, dass wir nicht wie Einsiedler­mönche leben müssen, sondern dass es um uns herum und auf der ganzen Welt Mitchristen gibt, die zusammen mit uns Anteil haben am Evangelium des Herrn Jesus Christus! Gemeinsam sind wir Beschenkte, Begnadete, Geheiligte und zum ewigen Leben Berufene. Wir erfahren es, wenn wir uns hier im Gottes­dienst um das Wort unseres Herrn versammeln und ihn gemeinsam loben. Wir erfahren es in einzig­artiger Weise, wenn wir zusammen am Altar knien, den einen für uns gebrochenen Leib des Herrn empfangen und aus einem Kelch sein Blut trinken zur Vergebung unserer Sünden. Wir erfahren es im täglichen Gebet, besonders bei Fürbitte und Fürdank: Wir dürfen andere um ihre Fürbitte bitten und sie ebenso wissen lassen, dass wir für sie beten. Wir dürfen uns gegenseitig helfen und dienen je nach Not und empfangenen Gaben. Wir dürfen uns gegenseitig beschenken, trösten, ermahnen und erfreuen. Auch wenn wir allein sind oder die einzigen Christen weit und breit, können wir uns doch daran erinnern, dass unsichtbare Bänder uns mit unzähligen anderen Christen in der ganzen Welt verbinden.

Dennoch kann es vorkommen, dass wir uns einsam, klein und schwach fühlen mit unserem Glauben. Wir sehen uns dann bedroht wie eine kleine Insel im Seesturm. Dann hilft es, nach hinten und nach vorn zu schauen: nach hinten zu den Aposteln und den vielen Christen, die vor uns den Weg gegangen sind unter großen An­fechtungen und die Gott doch ans gute Ziel geführt hat – wie zum Beispiel Paulus oder Martin Luther; nach vorn aber zu dem wunderbaren Ziel. Denn Gott hat uns ja ver­sprochen, dass der Glaubensweg durch Kreuz und Leid nicht in den Untergang führt, sondern in seine Herrlich­keit. Lasst uns das nicht vergessen, sondern diesen Weg bejahen und freudig gehen. Gott will, dass wir auf diesem Weg wachsen und reifen; da gehört auch die Anfechtung mit dazu. Wenn wir uns von Gott immer wieder daran erinnern lassen, dann droht uns kein geistlicher Autismus, sondern dann wachsen wir gemeinsam auf die Vollendung unsers Heils hin. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2010.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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