Die Mut machende Stimme

Predigt über 2. Timotheus 1,7‑10 zum 16. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Im vorletzten Gemeindebrief habe ich darüber geschrieben, was für Stimmen uns antreiben können: die Stimme der Gewohnheit, die Stimmen der Mitmenschen, die Stimme unseres Bauchgefühls, die Stimme unseres Verstandes oder auch die Stimme des Heiligen Geistes. Wir richten uns mit unserem Verhalten immer nach mindestens einer dieser Stimmen. Für viele Menschen ist die Stimme ihres Bauchgefühls dabei besonders wichtig. Bei dem Einen ist das eine neugierige Stimme, die ihn dazu führt, immer wieder Neues zu erleben und Neues in Erfahrung zu bringen. Bei einem Zweiten fordert das Bauchgefühl Spaß; er lebt nach dem Lustprinzip. Bei einem Dritten ist es ein Gefühl der Furcht; sein Bauchgefühl warnt ihn immer vor allerlei Gefahren und Risiken, sodass er sich nur sehr zögerlich an etwas herantraut.

Nun ist die Furcht an sich ja nicht schlecht; sie ist ein gutes Warnsystem, das der Schöpfer uns mit auf den Weg gegeben hat. Die Stimme der Furcht mahnt uns zur Vorsicht, und wir tun gut daran, vorsichtig zu sein, etwa im Straßenverkehr oder beim Heimwerken; Leichtsinn kann schlimme Folgen haben. Aber es gibt auch eine übertriebene Furcht, zu der manche Menschen neigen. Man sollte diese Charaktereigenschaft besser als „Ängstlichkeit“ bezeichnen oder als „Feigheit“. Wer zu ängstlich oder gar feige ist, der lässt vieles Gute ungetan, weil er sich einfach nicht herantraut.

Der junge Pfarrer Timotheus war ein ängstlicher Mensch; sein Bauchgefühl war in erster Linie eine Stimme der Ängstlichkeit beziehungsweise der Feigheit. Der Apostel Paulus hat das in seinem Brief an Timotheus mit einem Begriff bezeichnet, der in der Lutherbibel mit „Geist der Furcht“ wiedergegeben ist. Zwar hatte Timotheus den Herrn Jesus Christus lieb und wollte sich für die Ausbreitung des Evangeliums einsetzen, aber er zögerte oft wegen seiner Ängstlichkeit. Christsein war damals eine gefährliche Sache. Den Apostel Paulus hatte sein missionarischer Eifer sogar ins Gefängnis gebracht; von dort aus schrieb er an Timotheus. Die Stimme der Ängstlichkeit hat dem Timotheus womöglich geraten, sich von Paulus zu distanzieren, um nicht selbst in das Visier von dessen Feinden zu geraten. Paulus ermahnte Timotheus, nicht auf sein ängstliches Bauchgefühl zu hören, sondern vielmehr auf die Stimme des Heiligen Geistes. Er schrieb ihm: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.“

Paulus machte dem Timotheus klar: Der Geist der Ängstlichkeit kommt nicht von Gott; die Stimme der Feigheit ist nicht Gottes Stimme. Solche Ängstlichkeit widerspricht dem Evangelium von Jesus Christus, das Paulus in den folgenden beiden Versen entfaltet hat. Wer an Jesus glaubt und an die Kraft seiner Erlösung, braucht keine Angst mehr zu haben, dass Gott ihn bestraft; Jesus hat ja Gottes Strafe schon für ihn getragen mit seinem Tod am Kreuz. Wer an Jesus glaubt und an die Kraft seiner Erlösung, braucht sich auch nicht vor Gottes Feinden zu fürchten und vor Verfolgung, denn Jesus hat alle Macht im Himmel und auf Erden; niemand ist ihm überlegen. Wer an Jesus glaubt und an die Kraft seiner Erlösung, der braucht sogar den Tod nicht zu fürchten, denn Jesus hat mit seiner Auferstehung dem Tod die Macht genommen und all den Seinen das Tor zur ewigen Seligkeit geöffnet. Die Evangeliumsworte des Paulus gipfeln in dem Satz, der zum Wochenspruch dieser Woche wurde: „Christus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.“

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, es ist nicht so, dass ein ängstlicher Mensch plötzlich alle Ängstlichkeit verliert, wenn er ein Christ wird. Ein ängstlicher Mensch behält sein furchtsames Bauchgefühl, auch wenn er an Jesus glaubt und an die Kraft seiner Erlösung. Bei Timotheus war das nicht anders. Paulus wusste das, und darum forderte er seinen geistlichen Sohn auf: Hör einfach nicht auf die Stimme der Feigheit in dir, die kommt nicht von Gott! Richte dein Verhalten lieber nach Gottes Geist! Handele mutig nach seiner Stimme, auch wenn dir dein Bauchgefühl etwas anderes sagt! Timotheus hatte solche Ermutigung nötig, und ich denke, dass auch viele von uns, die wir hier versammelt sind, solche Ermutigung nötig haben. So möchte ich euch und auch mich selbst mit diesem Gotteswort ermutigen: Nicht der Geist der Ängstlichkeit kommt von Gott, sondern der Ruf des Evangeliums, die Stimme des Heiligen Geistes, der „Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“.

Erstens ist der Ruf des Evangeliums also eine Stimme der Kraft. Der Begriff „Kraft“ ist eng verbunden mit dem Evangelium. Am Anfang des Römerbriefs schrieb Paulus: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes“ (Römer 1,16). Das Evangelium krempelt Menschen um, es setzt Menschen in Bewegung, es macht Kranke gesund und Tote lebendig; das Evangelium schafft und macht und tut und wirkt! Dieses Evangelium ist die Hauptkraft in unserem Leben. Auf diese Kraft können wir uns verlassen, denn sie ist nicht endlich wie Menschenkraft, sondern unendlich wie Gott. Wenn wir uns von dieser Kraft leiten lassen, dann wird die Stimme der Ängstlichkeit leise und unbedeutend.

Zweitens ist der Ruf des Evangeliums auch eine Stimme der Liebe. „Gott hat uns gegeben den Geist der Liebe“, schrieb Paulus. Das Evangelium zeigt uns, dass wir in Gottes großer Liebe geborgen sind. Gott liebt uns bedingungslos, egal ob er Freude an uns hat oder ob wir ihm Kummer machen. Paulus schrieb: „Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus…“ Dieses Evangelium ermutigt uns, selbst zu lieben und dazu auf andere Menschen zuzugehen. Es ermutigt uns auch, von Jesus und seiner Liebe Zeugnis zu geben, sogar auf die Gefahr hin, dass man uns auslacht, ablehnt oder nicht für voll nimmt. Diese Evangeliumsliebe scheut auch vor Risiken nicht zurück, vor Verletzungen, vor Mühen und Leiden. Paulus forderte Timotheus auf: „Leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.“

Das dritte, wozu Gott uns durch das Evangelium aufruft, ist die Besonnenheit. „Gott hat uns gegeben den Geist der Besonnenheit“, schrieb Paulus; so jedenfalls steht es in der aktuellen Revision der Lutherbibel. Luther hatte ursprünglich übersetzt: „Gott hat uns gegeben den Geist der Zucht“. Was ist damit gemeint – mit Zucht beziehungsweise Besonnenheit? Am treffendsten geben das im heutigen Sprachgebrauch die Begriffe „Selbstdisziplin“ und „Selbstkontrolle“ wieder. Gemeint ist die Stimme des Verstandes, die nach gründlicher Prüfung unter Umständen die Stimme des Bauchgefühls und andere Stimmen korrigiert. Auch für solche Selbstkontrolle ist das Evangelium die entscheidende Leitlinie, der entscheidende Prüfmaßstab. Wer sich vom „Geist der Zucht“ leiten lässt, der fragt sich: Ist mein Verhalten von der Liebe Gottes geprägt und von der Kraft des Evangeliums? Oder kommt mir meine Ängstlichkeit in die Quere, oder meine Trägheit, oder eine schlechte Angewohnheit, oder das schlechte Vorbild von Mitmenschen? Man kann den Geist der Besonnenheit auch auf die kurze Formel bringen: Wie würde sich Jesus an meiner Stelle verhalten, der ganz von Liebe und Wahrhaftigkeit durchdrungen ist?

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Lassen wir uns durch dieses Gotteswort ermutigen, lieber auf Gottes Geist und das Evangelium zu hören als auf unser ängstliches Bauchgefühl! Handeln wir mutig, liebevoll und besonnen, nicht feige! Springen wir über unseren Schatten! Geht das überhaupt – über seinen eigenen Schatten springen? Wer es schon einmal im wörtlichen Sinne versucht hat, der merkt: Es geht nicht, es ist unmöglich! Aber vergessen wir nicht: Bei Gott ist kein Ding unmöglich; bei Gott werden sogar Tote wieder lebendig. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2010.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

 


 

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