Der Erste

Predigt über 1. Timotheus 1,12‑17 zum 3. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus,

stellt euch das mal vor: Ein Mann hängt ein Bild von sich selbst an die Wand. Auf dem Bild steht „der Erste“. Das Bild hat einen kostbaren goldenen Rahmen. Was haltet ihr davon? Ist der Mann ein Sportler? Oder ein Angeber?

Nein, dieser Mann ist weder ein Sportler noch ein Angeber. Dieser Mann heißt Paulus. Sein „Bild“ im über­tragenen Sinn ist der Abschnitt aus dem 1. Ti­motheus­brief, den wir eben gehört haben. In diesem Abschnitt schreibt Paulus über sich selbst und nennt sich „der Erste“; sogar zweimal tut er das. Was es mit dem kostbaren goldenen Rahmen auf sich hat, das werden wir später sehen.

Ja, gleich zweimal nennt sich Paulus „der Erste“. Er hat ge­schrieben: „Ich bin der Erste unter den Sündern.“ Und er hat dann auch ge­schrieben: „Jesus hat an mir als Erstem alle Geduld erwiesen.“ Paulus bezeichnet sich also als Erster sowohl im Sündigen als auch im Selig-Werden. Er hat dabei wie gesagt keineswegs den sportlichen Ehrgeiz, die Gold­medaille im Sündigen zu gewinnen, und er prahlt auch nicht damit, dass Jesus gerade ihn besonders nachsichtig behandelt. Wenn Paulus sich zweimal „der Erste“ nennt, dann deshalb, weil er uns nach­folgenden Christen ein Beispiel geben möchte. Er hat ge­schrieben, dass er der Erste ist „zum Vorbild denen die an Christus glauben sollten zum ewigen Leben“. Er ist Erster im Sinne von „Vorreiter“ oder „Vor­turner“. Es gehört zu seinem aposto­lischen Amt und Auftrag, Erster zu sein, Vorbild zu sein, Beispiel zu sein. Er und die anderen Apostel haben quasi Modell­charakter für alle späteren Jünger Jesu, für alle Christen, und damit auch für uns.

Nehmen wir uns also ein Beispiel an Paulus! Er hat gesagt, dass er früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war. Wir wissen, dass er eine hohe­priester­liche Vollmacht besaß, um Christen fest­zunehmen und dem Henker aus­zuliefern, und dass er von dieser Vollmacht auch Gebrauch gemacht hatte. Paulus hat in seinem Brief an Timotheus aber nicht nur zugegeben, dass er mal so ein schlimmer Sünder war, sondern dass er unter den Sündern immer noch der Erste ist. Paulus hatte also auch als Apostel immer noch mit der Sünde zu kämpfen und nennt das beim Namen. Nun ist allerdings die Frage,was denn daran für uns vorbildlich sein soll. Die Antwortet lautet: Seine Ehrlichkeit ist es, die ist für uns vorbild­lich! Paulus hat nicht versucht, seine finstere Vergangen­heit hinter einer Wand aus Lügen zu verbergen. Das versuchen ja Menschen immer wieder, auch heutzutage noch, auch ganz berühmte Leute in hohen Positionen. Und seien wir mal ehrlich: Das hat doch jeder von uns auch schon mal gemacht. Zumindest können wir uns immer wieder dabei ertappen, dass wir die Sünden unserer Vergangen­heit ein bisschen kleiner und harmloser darstellen, als sie tatsächlich waren. Oder auch, dass wir zwar zu vergangenen Sünden stehen, aber die gegen­wärtigen Sünden abstreiten. Dass wir also sagen: Früher habe ich mal Fehler gemacht, aber jetzt doch nicht mehr! Nun sind wir allerdings keine Christen­verfolger wie Paulus und waren es auch niemals gewesen – aber lieblose und un­wahrhaftige Leute sind wir dennoch. Oder hochmütige Leute, die sich auf ihre Frömmigkeit etwas einbilden und gering­schätzig auf andere herabsehen. Oder egoistische Leute, die an der Not anderer achtlos vorüber­gehen und ganz mit sich selbst beschäftigt sind. Oder gleich­gültige Leute, die es nicht so genau nehmen mit Gottes Geboten. Oder faule Leute, die sich lieber mit seichter Unter­haltung zerstreuen anstatt etwas Sinvolles zu tun, zu beten oder in der Bibel zu lesen. Nehmen wir uns Paulus zum Vorbild und nennen wir unsere Sünden offen beim Namen, die vergangenen und die gegen­wärtigen! Seien wir dabei nicht zurück­haltend oder heuch­lerisch! Sprechen wir es ruhig aus, in der Beichte und auch sonst: Ich bin ein armer elender Sünder! Denn je ehrlicher wir zu unserer Sünde stehen, um so größer wird uns auch das Wunder von Gottes Gnade vor Augen treten, wie der Apostel Paulus geschrieben hat: „Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist.“

Nun hat sich Paulus aber wie gesagt nicht nur als Erster im Sündigen positio­niert, sondern auch als Erster im Selig-Werden. Er hat das Evangelium von Jesus Christus mit starkem Glauben ergriffen und mit seinem scharfen Verstand bis in die Tiefe ausgelotet. Er hat leiden­schaftlich alles bekämpft, was dieses Evangelium zu verwässern oder zu verleugnen drohte. Er wusste, dass er als großer Sünder nichts Eigenes zur Seligkeit beitragen kann, sondern dass sie ein un­verdientes Gnaden­geschenk Gottes ist. Er hat ge­schrieben: „Mir ist Barm­herzigkeit wider­fahren.“ Er wusste: Verdient habe ich etwas ganz anderes, verdient habe ich Gottes harte Bestrafung, verdient habe ich seinen Zorn, verdient habe ich den Tod, verdient habe ich die Hölle. Aber weil Gott mich liebt und Jesus mich am Kreuz erlöst hat, darum bleibt mir das alles erspart. Auch wenn ich mich immer noch beim Sündigen ertappe, hat Christus Geduld mit mir und lässt mich aufs Neue wissen, dass er mir die Schuld vergibt. Vor dem Jüngsten Gericht brauche ich keine Angst zu haben, denn die Strafe für alles Böse in meinem Leben ist längst abgegolten; Jesus hat sie am Kreuz getragen. So darf ich mich ungetrübt und unverdient auf den Himmel freuen. Ja, mit dieser klaren Glaubens­erkenntnis ist Paulus der Erste im Selig-Werden geworden, also ein Beispiel, ein Vorbild für uns. Wenn doch auch wir Gottes Liebe und Gottes unverdiente Barmherzig­keit so klar erkennen würden! Wenn doch auch wir sie so fest im Glauben ergreifen würden! Wenn doch auch wir diese gute Nachricht so konsequent gegen alle Ver­wässerung verteidigen würden! Wenn doch auch wir diese Frohe Botschaft so unermüdlich ausbreiten würden wie Paulus! Denn es gibt ja nichts Besseres und nichts Wichtigeres als das Selig­werden.

Ja, Paulus setzt sich uns hier zum Vorbild im Sünde-Bekennen und im Selig-Werden; so entspricht es seinem Amt als Apostel. Und mittendrin in dem Bild, das er von sich zeichnet, erinnert er an ein Wort, das Jesus gesagt hat. Er leitet es in einer Weise ein, dass wir erkennen können: Es ist ein ganz wichtiges Wort; es enthält die Hauptlehre der Bibel, das Evangelium. Paulus hat ge­schrieben: „Das ist gewisslich wahr und ein Wort des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen.“ Er greift damit das Wort auf, das der Herr Jesus Christus einst zu Zachäus sagte und das heute unser Wochen­spruch ist: „Der Menschen­sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist“ (Lukas 19,10). Damit zeigt Paulus, dass er sich nicht eigen­mächtig mit einem selbst aus­gedachten Evangelium zum Vorbild setzt, sondern dass er nichts anderes sagt und vorlebt, als was der Gottessohn persönlich vom himmlischen Vater offenbart hat. Wenn Paulus sich als Ersten unter den Sündern bezeichnet, dann sagt er damit: Seht her, ich bin so ein Verlorener, von dem Jesus gesprochen hat, und ihr Christen tut gut daran, das ebenfalls von euch zu bekennen! Und wenn er sich als Erster unter den selig Gemachten bezeichnet, dann sagt er damit: Seht her, ich bin so einer, den Jesus gesucht und gefunden und selig gemacht hat, und ihr seid es auch! Christus ist gekommen, die Sünder selig zu machen – darin steckt unser ganzes Heil, unser ewiges Leben! Beachtet, dass „Sünder“ und „selig machen“ in diesem Satz unmittelbar neben­einander stehen – die beiden Dinge, von denen Paulus sagt, dass er darin der Erste ist! Beachtet auch, dass diese beiden Dinge das Wesen der Beichte ausmachen: Wir bekennen unsere Sünden und wir empfangen den selig­machenden Zuspruch der Vergebung. Darum tun wir gut daran, die Beichte hoch in Ehren zu halten, denn in ihr wird ganz deutlich, worum es beim Evangelium geht!

„Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen.“ „Des Glaubens wert“, hat Luther übersetzt. Im griechi­schen Urtext steht da nicht das übliche Wort, das Paulus sonst für „Glaube“ verwendet, sondern es steht da ein Wort, das man auch mit „Annehmen“ oder „Empfangen“ übersetzen kann. Das Evangelium vom Sünder­heiland Jesus Christus ist des Empfangens wert – so, wie man einen lieben Gast willkommen heißt, wenn er eintritt. Ja, so wollen wir den Herrn Jesus Christus und sein Heil in unserem Leben herzlich willkommen heißen, stets auf Neue! Wir wollen ihn so fröhlich und bereit­willig aufnehmen, wie Zachäus ihn einst bei sich zu Hause aufgenommen hat. Wir wollen jubeln, dass auch unserem Lebenshaus Heil widerfahren ist durch diesen wunderbaren Gast. Lasst uns das Evangelium nicht wie eine lästige Pflicht­übung hören, lasst die Beichte nicht ungenutzt vorüber­gehen, verachtet auch nicht das Heilige Abendmahl, sondern heißt Jesus und seine Erlösung reichlich und immer wieder neu bei euch willkommen! „Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens, des Annehmens wert!“

Wir müssen fest­stellen: Das Bild, das Paulus hier von sich selbst zeichnet und das er mit dem Titel „der Erste“ versieht, das ist alles andere als Prahlerei und Selbst-Be­weihräuche­rung. Es ist vielmehr ein Lobpreis des Herrn Jesus Christus und dessen Handelns an ihm, uns zum Vorbild auf­geschrieben. In gleicher Weise ist der kostbare goldene Rahmen keine über­hebliche Selbst-Inszenie­rung, sondern pures Gotteslob. Jetzt will ich euch verraten, was ich mit diesem Rahmen meine: Es ist der Anfang und der Schluss dieses Abschnitts aus dem 1. Ti­motheus­brief. Am Anfang steht: „Ich danke unserm Herrn Jesus Christus“, und am Ende steht ein großer und schöner Satz des Lobpreises, eine sogenannte Doxologie. Lob und Dank, das ist der würdige goldene Rahmen für Christi Evangelium, durch das Sünder selig werden. Und so beschließe ich denn diese Predigt gerade mit jenem Lobpreis, mit jener Doxologie, mit der Paulus sein evange­lisches Selbst­portrait eingerahmt hat: „Gott, dem ewigen König, dem Un­vergängli­chen und Un­sichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit. Amen.“

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2010.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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