Die Kraft der Liebe

Predigt über 1. Johannes 4,16b‑21 zum 1. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Manchmal taucht bei einem Gesell­schafts­spiel die Frage auf: Was würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen? Ich müsste dann antworten: die Angst. Nicht, dass ich gern Angst habe. Aber wenn ich mir vorstelle, dass ich auf einer einsamen Insel von allen Menschen ab­geschnitten bin, dann kriege ich es mit der Angst zu tun. Was ist, wenn ich da krank werde? Was ist, wenn mich ein wildes Tier anfällt? Was ist, wenn Gewitter oder Sturmfluten kommen? Auf der einsamen Insel könnte ich keine Feuerwehr herbeiholen und keinen Notarzt. Niemand würde da meine Hilferufe hören.

Liebe Gemeinde, das ist nicht nur ein Gesell­schafts­spiel, für viele ist es bitterer Ernst: Sie leben einsam, sie leben wie auf einer Insel. Die alte Witwe zum Beispiel, die kaum noch aus ihrer Wohnung kommt und den ganzen Tag lang mit ihren trüben Gedanken allein ist. Der An­gestellte, der von seinem Chef schikaniert und von seinen Kollegen gemobbt wird. Die Schülerin, die alle wegen ihres Aussehens hänseln. Der Blinde, der sich in der Stadt verlaufen hat und viele Leute an sich vorbei­hasten hört; aber da ist keiner, der mal fragt, ob er ihm helfen kann. Die junge Frau, die abends vom Bahnhof nach Hause geht und ängstlich um sich schaut, ob ihr nicht jemand auflauert. Ja, so können Menschen einsam sein, auch wenn da andere in ihrer Nähe sind. So können Menschen gewisser­maßen auf einer Insel leben, auch wenn sie auf dem Festland wohnen. Und die Angst ist immer mit von der Partie.

Gott sagt uns durch den Apostel Johannes: „Wer sich fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.“ Das bedeutet anders­herum: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.“ Wenn also jemand mit Furcht auf einer Insel der Einsamkeit sitzt, dann fehlt es ihm an Liebe. Ohne Liebe sind wir Opfer der Angst. Darum sehnen sich ja alle Menschen nach Liebe und Geborgen­heit. Niemand möchte dauerhaft auf einer einsamen Insel leben. Wirklich, die größte Sehnsucht, die wir Menschen kennen, ist die Sehnsucht nach Liebe. Wenn ein Neu­geborenes schreit, dann schreit es nicht nur nach der Mutter­milch, dann schreit es zugleich auch nach der Mutter­liebe. Der erwachsene Mensch sucht sich einen Partner oder eine Partnerin nicht nur wegen des Sexual­triebs, sondern auch, weil er wirklich geliebt werden will. Der alte Mensch hat immer noch ein großes Bedürfnis an Liebe, das freilich oft ungestillt bleibt. Er möchte nicht nur als Pflegefall mit den nötigen Dienst­leistungen versorgt werden, sondern er sehnt sich nach liebevoller Zuwendung.

Die menschliche Sehnsucht nach Liebe ist letztlich auch eine Sehnsucht nach Gott. Egal, ob ein Mensch sich das eingesteht oder ob er es verleugnet: Jeder möchte von Gott geliebt sein, denn keiner will ängstlich auf der einsamen Insel seines kleinen Erdenlebens sitzen, umgeben vom Meer des Schicksals, das jederzeit blindwütig zuschlagen kann.

Mit schlichten und klaren Worten bezeugt uns der Apostel Johannes, dass wir unsere Sehnsucht nach Liebe tatsächlich stillen können, auch und zuallererst unsere Sehnsucht nach Gottes Liebe. Johannes sagt: „Gott ist die Liebe.“ Dieser Satz mag uns vertraut und selbst­verständlich klingen, aber viele konnten und können ihn nicht glauben. Viele Menschen sehen in Gott nur den strengen Richter, dem kein Fehltritt entgeht und der alles hart bestraft. Gott ist für sie wie ein un­nachsichti­ger Chef: Wer nicht hundert­prozentig zu seiner Zufrieden­heit arbeitet, muss mit einer Kündigung rechnen. Derjenige, der so ein Gottesbild hat, findet bei Gott keine Liebe, sondern er lebt auf einer Insel der Furcht, umgeben vom Meer des göttlichen Zorns. Der Apostel Johannes sagt: „Die Furcht rechnet mit Strafe.“ Es ist letztlich die Furcht vor Gottes großer grausamer End­abrechnung am Jüngsten Tag.

Gott selbst hat etwas getan, um dieses Gottesbild zu zerstören. Gott selbst hat sich uns Menschen zugewandt in seiner Liebe, mit einem liebevollen mensch­lichen Gesicht. Gott selbst ist Mensch geworden, Gott ist zu uns auf die „Insel“ unserer Welt gekommen. In der Person des Jesus von Nazareth hat Gott die Welt von seinem eigenen Zorn befreit sowie auch von der Furcht davor. „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen ein­geborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh. 3,16). „Gott ist die Liebe“, das erkennen wir durch Jesus Christus. Wer an Jesus glaubt und an ihm bleibt, der bleibt in der Liebe, und wer in Christi Liebe bleibt, „der bleibt in Gott und Gott in ihm“ – und zwar so, wie er wirklich ist, als liebender und barm­herziger Gott. Das Evangelium von Jesus Christus ist die wichtigste Botschaft Gottes für die Welt, die Zentral­botschaft der Bibel. Der Apostel Paulus hat einmal ge­schrieben: „Die Hauptsumme aller Unter­weisung ist Liebe“ (1. Tim. 1,5). „Gott ist die Liebe“, das sehen wir an Jesus, und damit verlieren wir die Furcht vor Gottes Zorn und vor dem Jüngsten Tag. Der Apostel Johannes sagt: „Darin ist die Lieber bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt.“ Mit „er“ meint Johannes Jesus. Wie Jesus in ewiger, liebevoller Gemein­schaft mit dem himmlischen Vater steht, so stehen auch wir nun durch ihn in ewiger, liebevoller Gemein­schaft mit dem himmlischen Vater, auch wenn wir noch auf der „Insel“ dieser Welt leben. „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Wer an Jesus glaubt, der ist nicht mehr einsam, sondern der lebt mit ihm und dem himmlischen Vater zusammen wie in einer har­monischen Familie, wo nur Liebe herrscht.

In der Nordsee gibt es eine bemerkens­werte Insel, die heißt „Neuwerk“. Vom Festland bei Cuxhaven kann man mit dem Boot zu dieser Insel fahren. Aber knapp einen halben Tag später ist das Wasser um diese Insel herum weg: Neuwerk liegt nämlich im Wattenmeer, und wenn die Ebbe kommt, dann ist die Insel mit dem Festland verbunden. Man kann dann zu Fuß ans Festland zurück wandern oder sich von einem Wattwagen zurück kutschieren lassen. Was ist das für eine große Kraft, die aus der Insel immer wieder ein Stück Festland macht? Wer sich mit Ebbe und Flut auskennt, der weiß es: Es ist die Kraft des Mondes. Der Mond zieht das Wasser der Nordsee an wie ein Magnet und bewirkt, dass es weit zurück­tritt.

Lasst uns die Eigenart der Insel Neuwerk als Gleichnis für unsere menschliche Situation nehmen! Da sitzen wir isoliert auf einer Insel mit unserer Angst und sehnen uns nach Liebe. Ein Meer um uns herum isoliert uns. Dann aber wirkt eine große Kraft vom Himmel her: Es ist die Kraft von Gottes Liebe, es ist die Kraft des Evangeliums von Jesus Christus. Diese Kraft bewirkt, dass das Meer zurücktritt und wir nicht mehr isoliert sind. Diese Kraft bewirkt, dass wir Gemeinschaft haben mit Jesus, und durch ihn mit dem himmlischen Vater. Diese Kraft schenkt uns die Zuversicht, dass Gott uns nicht mehr böse ist und strafen will, sondern dass wir bei ihm geliebt und geborgen sind wie kleine Kinder bei herzens­guten Eltern. „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.“

Wenn die große Kraft der Evangeliums­liebe bei uns wirkt und unser Insel-Dasein beendet, dann geschieht aber noch mehr, als dass wir nur mit Gott liebevolle Gemein­schaft haben. Die große Kraft der Evangeliums­liebe nimmt auch diejenigen Wasser­massen weg, die uns von unseren Mitmenschen trennen. Gottes Liebe in Christus macht uns erst richtig fähig, dass wir uns unter­einander lieb haben können. Anders­herum: Wer nicht bereit ist, sich anderen Menschen liebevoll zu öffnen und auf ihre Sehnsucht nach Liebe einzugehen, der zeigt damit, dass er von Gottes Liebe noch nichts begriffen hat. Darum schreibt der Apostel Johannes: „Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.“

Ja, so wird Gottes große Liebe auf Erden sichtbar: Wenn bei uns Christen all das schwindet, was uns von anderen Menschen trennt und was uns daran hindert, sie zu lieben. Das Evangelium von Jesus Christus nimmt wie ein großer Magnet von oben her alle Feindschaft weg, alle Vorurteile, alle Gleich­gültig­keit und auch alle Angst – alles, was die Menschen auf ihren Inseln voneinander isoliert. Ohne Furcht gehen wir nun freudig aufeinander zu und vergeben dem Bruder oder der Schwester auch gern, was er oder sie uns schuldig geblieben ist. Wie Jesus, unser Meister, es mit uns macht, so lernen wir, seine Jünger, es unter­einander. Freilich ist unsere Nächsten­liebe noch nicht vollkommen, und so ist auch die Furcht unter uns noch nicht gänzlich beseitigt. Aber Gott arbeitet an uns, arbeitet weiter mit seinem Evangeliums­wort, das uns immer wieder auf vielfache Weise begegnet. Ja, Christi vollkommene Liebe treibt unsere Furcht aus, sodass am Ende nur noch die Liebe übrig bleiben wird, und zwar für immer. Denn Gott ist die Liebe. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2010.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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