Unter Gottes Messer

Predigt über Hebräer 4,12‑13 zum Sonntag Sexagesimä

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Der Mensch will gut aussehen und gibt dafür viel Geld aus: für Schmuck und Schminke, für modische Kleidung und schicke Schuhe, für Anti-Falten-Cremes und Haarfärbe­mittel. Wer in ein Bewerbungs­gespräch geht, wird besonders viel Sorgfalt auf sein Äußeres legen; darüber hinaus wird er mit seinem ganzen Auftreten darauf hinwirken, dass er einen möglichst vorteil­haften Eindruck macht. Wer zum Arzt geht, wird versuchen, auch dort eine einiger­maßen gute Figur abzugeben. Er wird nicht gerade die alte geflickte Unterwäsche anziehen und bei der Unter­suchung vielleicht den über­dimensio­nalen Bauch etwas einziehen. Was für das äußere Erscheinungs­bild und den Körper gilt, das gilt ebenso für die ganze Persönlich­keit und die Seele: Auch in dieser Hinsicht will der Mensch gut aussehen. Wer sich zum Beispiel mit seinem Pfarrer unterhält, der ist darum bemüht, sich als nächsten­liebender Mensch und als guter Christ dar­zustellen. Ja, wir alle basteln mehr oder weniger fleißig an unserem Image, wie man so sagt. Wir geben uns viel Mühe, unseren Mitmenschen ein möglichst vorteil­haftes Erscheinungs­bild zu bieten – sei es dem zukünftigen Arbeit­geber, dem Arzt, dem Pfarrer oder sonst jemandem.

Natürlich wissen wir alle ganz genau, dass man den anderen Menschen nur begrenzt etwas vormachen kann. Vielleicht ist der Personal­chef beim Bewerbungs­gespräch ein guter Menschen­kenner und durchschaut die Maske; vielleicht ist es beim Pfarrer ebenso. Der Arzt sieht sowieso mehr von uns als wir selbst: Er horcht in unser Inneres hinein, er betrachtet Röntgen- und Ultraschall-Bilder, er schneidet womöglich mit dem Skapell unseren Bauch auf und sieht dann ganz genau, was in uns los ist. Am aller­wenigsten aber können wir Gott etwas vormachen. Sein Skalpell legt nicht nur das Leibes­innere frei, sondern es bringt alles von uns ans Licht, Leib und Seele, unsere ganze Persönlich­keit. Bei Gott nützen weder Schminke noch Bauch-Einziehen noch Ausreden; er sieht uns so, wie wir wirklich sind. Und das sagt er uns auch ganz klar, zum Beispiel hier mit diesem Wort aus dem Hebräer­brief: „Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zwei­schneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechen­schaft geben müssen.“ Vor Gott können wir uns nicht verstecken und verhüllen, so wie Adam und Eva es nach dem Sündenfall versuchten, sondern vor Gott stehen wir in jeder Beziehung nackt da. Vor Gott können wir auch nicht fliehen, wie Jona es versuchte, denn Gott sieht uns in jedem Winkel der Erde. So heißt es im 139. Psalm: „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.“

Gott und sein Wort finden uns überall; Gott und sein Wort decken unser Innerstes auf. Gott und sein Wort, die gehören zusammen wie der Chirurg und sein Skalpell bei der Operation. Gottes Wort wirkt, was Gott will; Gott handelt durch sein Wort. Darum ist Gottes Wort „lebendig und kräftig“ – so lebendig wie der lebendige Gott, so wirkkräftig wie der allmächtige Gott. Gott und seinem Wort sind wir ebenso aus­geliefert wie der Patient, der in der Narkose auf dem Operations­tisch liegt, seinem Operateur. Gottes Wort ist scharf, Gottes Wort dringt durch, Gottes Wort legt unser Innerstes frei. Ja, Gott können wir nichts vormachen, denn sein Wort ist „ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“. Weil wir Gottes Geschöpfe sind, darum sind wir ihm Rechen­schaft schuldig für unser Leben; letztlich nur ihm. Unseren Mitmenschen brauchen wir also eigentlich nichts vor­zumachen, Gott aber können wir nichts vormachen, er beurteilt uns nach dem Maßstab seines Wortes. Wehe uns, wenn wir den Spieß umdrehen und uns zu Richtern über sein Wort machen wollten, wenn wir zum Beispiel sagten: „Das ist ja alles gar nicht so gemeint mit seinen Geboten; das muss man in der heutigen Zeit alles etwas lockerer nehmen.“ Oder: „Da stecken ja viele Fehler und Irrtümer drin in der Bibel; das sind ja letztlich nur alte Mythen.“ Wehe uns, wenn wir uns selbst zu Richtern machten und Gottes Wort so be­urteilten! Denn es ist ja gerade umgekehrt: Gott ist unser Richter, und sein Wort beurteilt uns. Gottes Wort legt schonungs­los offen, wie es um uns steht. Noch einmal: Gottes Wort ist ein „Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“

Und nun müsste uns eigentlich brennend inter­essieren, was Gott und sein Wort denn nun bei uns vorfinden. Es müsste uns inter­essieren, wie das Urteil dieses höchsten Richters denn nun aussieht. Es müsste uns inter­essieren, zu welcher Diagnose der Arzt aller Ärzte denn nun kommt. Diese Diagnose finden wir freilich nicht in den beiden Versen unseres Predigt­textes; diese Diagnose finden wir jedoch im Gesamt­zeugnis der Heiligen Schrift. Wenn Gottes Wort, Gottes Skalpell, alles in uns offen und bloß legt, dann erfahren wir die furchtbare Diagnose, dann erfahren wir die schreck­liche Wahrheit: Alles in uns ist durch und durch von Sünde verseucht, alles ist am Zusammen­brechen und Sterben! Es ist so, wie wenn der Chirurg am Operations­tisch in den geöffneten Körper blickt und feststellen muss: Überall sind Krebs­geschwüre, an allen Organen! Der Apostel Paulus hat Gottes Diagnose im Römerbrief aus mehreren anderen Schrift­worten so zusammen­gefasst: „Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer. Ihr Rachen ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen betrügen sie, Otterngift ist unter ihren Lippen; ihr Mund ist voll Fluch und Bitterkeit. Ihre Füße eilen, Blut zu vergießen; auf ihren Wegen ist lauter Schaden und Jammer, und den Weg des Friedens kennen sie nicht. Es ist keine Gottes­furcht bei ihnen… Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten“ (Römer 3,12‑23).

Fürwahr, eine nieder­schmettern­de Diagnose! Ein ver­heerendes Urteil aus dem Mund des einzigen Richters, dem wir letztlich wirklich Rechen­schaft schuldig sind! Wir liegen auf Gottes Operations­tisch unter dem Skalpell seines Wortes, und es sieht hoffnungs­los aus. Ja, unsere Lage wäre auch wirklich hoffnungs­los, wir wären dem Untergang und der Verdammnis geweiht – wenn nicht unser Arzt und Richter zugleich auch der allmächtige und erbarmende Gott wäre. Der Gott, der Wunder tun kann und auch tut. Und das erste Wunder in diesem Zusammen­hang ist dies: Obwohl er uns so hoffnungs­los sünden­verseucht vor sich sieht, wendet er sich nicht entsetzt ab, sondern er wendet sich im Gegenteil uns noch mehr zu und hat uns erstaun­licherweise immer noch sehr lieb. Dass es wirklich so ist, das wissen wir durch seinen Sohn Jesus Christus, das Fleisch gewordene Wort. Ja, Gott liebt uns sünden­verseuchte und dem Untergang geweihte Menschen über alle Maßen und will uns retten. Und weil er allmächtig ist, kann er uns auch retten. Wo jeder Philosoph am Ende seiner Weisheit anlangt, wo jeder Psychologe aufgeben muss, wo jeder Arzt ratlos bleibt, da kann und will der Allmächtige helfen. Es mag ein schmerz­hafter Eingriff sein, wenn sein Wort wie ein Messer in uns dringt und alles bloßlegt, aber es ist letztlich ein hilfreicher Eingriff. Denn nur so erkennen wir, dass wir uns selbst nicht erlösen können, sondern Gottes Erlösung nötig haben. Es ist die Erlösung, die Jesus am Kreuz erworben hat. Wer zu Jesus gehört und sich vertrauens­voll von ihm helfen lässt, der geht an seiner Sünden­krankheit nicht zugrunde, sondern der wird gesund zum ewigen Leben.

Nur eines könnte einem Menschen dabei noch zum Verhängnis werden: Dass er sich von Gott nicht helfen lassen will. Das wäre so, wie wenn ein Patient nicht die Ein­willigung zu einer lebens­rettenden Operation gäbe – aus Angst, aus Trotz oder aus mangelnder Einsicht in die Schwere seiner Krankheit. Wer Gott nicht sein Vertrauen schenkt, dem ist nicht zu helfen in seiner Sünden­krankheit; da bleibt dann nur noch der Tod. Davor behüte uns Gott! Nehmen wir vielmehr den ernsten, richtenden, aber letztlich auch alle Glaubenden rettenden Rat an, den Gottes Wort im größeren Zusammen­hang mit unserem Predigtext gibt: „Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht!“ (Hebr. 3,7‑8). Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2010.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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