Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
„Er wird nicht lang verziehen“, so haben wir eben aus dem Choral „Ermuntert euch, ihr Frommen“ gesungen. Von Christus, dem Bräutigam, ist die Rede. Das Gleichnis von den zehn Jungfrauen, das Jesus erzählt hat, sagt genau das Gegenteil: Der Bräutigam verzieht lange, er lässt lange auf sich warten. Und damit stehen wir vor einem Problem, das die Christenheit immer bewegt hat: Wann kommt er denn endlich sichtbar wieder, der Herr Jesus Christus, und holt uns zu sich in den Himmel?
Einigen Christen ist es freilich ziemlich egal, wann Jesus wiederkommt. Sie leben fröhlich auf dieser Welt und hoffen vielleicht sogar im Stillen, dass der Jüngste Tag nicht so bald kommt. Andere aber sehnen sich nach dem Himmel, möchten ein Leben voller Krankheit und Kummer bald hinter sich lassen. Die ersten Christen waren beseelt von dem Gedanken, dass Christus in allerkürzester Zeit wiederkommt. Manche von ihnen gaben ihren Beruf auf und verkauften ihren gesamten Besitz, weil sie meinten, sie würden das alles nicht mehr brauchen. Nun, diese sogenannte „Naherwartung“ hat sich zerschlagen; nach zweitausend Jahren ist Jesus immer noch nicht wiedergekommen. Dass er „bald“ wiederkommt und „nicht lange verzieht“, das kann man nach menschlichen Zeitmaßstäben nicht mehr behaupten, nur noch nach göttlichen Zeitmaßstäben, wo tausend Jahre wie ein Tag sind (Ps. 90,4). Oder man kann es im Hinblick darauf behaupten, dass jeder Mensch an seinem Todestag ja direkt an der Schwelle des Jüngsten Tages steht; kein Christ muss die ganzen 2000 Jahre Kirchengeschichte persönlich durchleben, sondern immer nur ein kleines Stück davon.
Aber wie man es auch wendet: Manchem Christen wird die Zeit auf Erden doch ziemlich lang, vor allem, wenn es darum geht, in Glaube und Hoffnung am Herrn Jesus Christus festzuhalten. Da gibt es im Laufe des Christenlebens viele Einflüsse, die den kindlichen Glauben kaputt machen wollen und Zweifel säen. Jesus wusste das schon von Anfang an, er hat es vorausgesehen. Und genau aus diesem Grund hat er das Gleichnis von den zehn Jungfrauen erzählt und von dem Bräutigam, der so unerwartet lange auf sich warten ließ. Er schloss die Geschichte mit der Manung: „Darum wacht! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.“
Um die Geschichte verstehen zu können, müssen wir uns auf uralte Traditionen des Hochzeitfeierns besinnen. Früher waren Hochzeiten ganz anders als heute in Deutschland. Damals war die Heirat eine Angelegenheit, bei der zwei Großfamilien miteinander in Beziehung traten. Außerdem war die Hochzeit zugleich der feierliche Umzug der Braut von ihrem Elternhaus zum Wohnort des Bräutigams und seiner Großfamilie. Das ist noch heute bei manchen Völkern so; ich selbst habe es im südlichen Afrika mehrfach erlebt. Die traditionelle Hochzeitsfeier beginnt damit, dass der Bräutigam mit seinen Freunden und gleichaltrigen Verwandten zum Wohnort der Braut kommt, um sie von dort abzuholen. Der erste Teil der Hochzeitsfeier findet also bei der Braut statt, der zweite Teil dann beim Bräutigam. Bevor der Bräutigam bei der Braut eintrifft, wird die Braut herrlich gekleidet und geschmückt. Ihre Freundinnen und gleichaltrige Mädchen aus der Verwandtschaft sind bei ihr; das sind die „Jungfrauen“, die sogenannten „Brautjungfern“. Weil die Mädchen zu Jesu Zeiten normalerweise recht jung heirateten, müssen wir uns eine aufgeregte, fröhlich kichernde Schar von Teenagern vorstellen. Sie freuen sich riesig auf die bevorstehende Hochzeitsfeier. Aber zunächst heißt es warten – auf den Bräutigam und sein Gefolge. Der kommt noch lange nicht. Im Falle des Gleichnisses, das Jesus erzählt, trifft er erst um Mitternacht bei der Braut ein. Ist das nicht merkwürdig? Ist das nicht unhöflich? Warum hat man die ganze Hochzeitsfeier nicht besser geplant?
Diese Fragen sind typisch deutsche Fragen. Wenn ich wieder an afrikanische Hochzeiten zurückdenke, dann kommt mir das sehr vertraut vor, eigentlich ganz normal: Eine Hochzeitsfeier fängt meistens später an, als man denkt. Die afrikanischen Hochzeiten, an denen ich selbst teilgenommen habe, fingen alle etwa ein bis drei Stunden später an als geplant. Da könnte man viele einzelne Gründe nennen, die das Ganze verzögern; aber eigentlich sind den Teilnehmern die Gründe ziemlich egal. Ja, normalerweise macht ihnen das Warten gar nichts aus: Man ist zusammen, man ist festlich gestimmt, man freut sich auf die bevorstehende Hochzeit, man kann mit diesem und jenem in Ruhe sprechen. So fanden sicher auch Jesus und seine Jünger es ziemlich normal, dass bei einer bevorstehenden Hochzeit der Bräutigam erst stark verspätet bei der Braut eintrifft. Der Braut und ihrer aufgeregten, fröhliche kichernden Schar von Jungfrauen macht das nichts aus. Vorfreude ist eine schöne Freude, und wenn sie noch ein wenig länger anhält, kann das nur recht sein.
Aber die Brautjungfern beschließen nach längerem Warten, dem Bräutigamszug ein bisschen entgegenzugehen. Es dämmert schon; mit Mondlicht ist diese Nacht nicht zu rechnen; Taschenlampen gab es damals noch nicht; so nehmen sie Fackeln mit, um sich im Dunkeln zurechtzufinden: kleine Öllampen, die auf Stäben montiert sind. Wie ein Laternenzug machen sich die Mädchen auf den Weg. Fünf von den zehn Teenagern sind so klug und vorausschauend, dass sie wissen: So ein Bräutigamszug kann ziemlich lange auf sich warten lassen; es kann möglicherweise noch Stunden dauern. Weil in kleinen Öllampen nicht viel Öl drin ist, nehmen sie sich Tonkrüge mit Reserveöl mit – für alle Fälle. Die fünf anderen, die nicht so klug und vorausschauend sind, ziehen nur mit ihren Fackeln los. Hätten die anderen, die Klugen, ihnen nicht einen Tipp geben können? Ja, das hätten sie machen können. Und ich bin sicher: Das haben sie auch gemacht. Aber ihr Tipp wird als unnötig und pessimistisch abgewiesen: „So lange wid's bestimmt nicht dauern!“ Nun, wir wissen: Es hat doch so lange gedauert, bis Mitternacht. So lange, dass die lustigen Teenager erst etwas ruhiger werden, sich dann am Wegesrand niedersetzen und ihre Fackeln in den Sand stecken, schließlich einschlafen. Und dann kommen die Vorboten der Bräutigams-Gesellschaft und rufen: „Auf, ihr Schlafmützen! Jetzt geht's los! Jetzt kommt der Bräutigam! Wolltet ihr ihm nicht entgegenlaufen?“ Die Mädchen wachen auf – und sehen, dass ihre Öllampen fast leergebrannt sind; die Dochte glimmen nur noch. Schnell füllen die fünf Klugen mit ihrem Reserveöl nach. Für die anderen reicht es nicht – sollen die doch zusehen, wo sie jetzt noch Öl herbekommen. Die Klugen jedenfalls treffen singend und tanzend mit der Schar des Bräutigams zusammen und begleiten ihn zum Haus der Braut. Da wird die Tür verriegelt und eine herrliche Hochzeit gefeiert. Die anderen fünf verpassen die ganze Freude, kommen zu spät, sind ausgesperrt. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Wenn wir uns das Gleichnis von den zehn Jungfrauen so vor Augen führen, auf dem Hintergrund der damaligen Hochzeitstradition, dann können wir ganz leicht feststellen, was Jesus uns damit sagen will. Er sagt uns: Wundert euch nicht, wenn der Jüngste Tag viel später kommt, als ihr denkt! Rechnet viel mehr damit, stellt euch darauf ein! Genießt so lange eure Gemeinschaft, genießt die Vorfreude, wartet auf mich! Ich komme schon noch!
Und weiter sagt er uns – das ist noch wichtiger – : Bleibt wach! Und das bedeutet in der Bildsprache der Bibel: Bleibt dran am Glauben! Haltet euer Glaubenslicht am Brennen! Seid dabei vorausschauend und klug – euer Glaube soll kein Strohfeuer sein, sondern eine dauerhafte Glut, die bis ans Ende eurer Tage leuchet. Haltet euer Glaubenslicht am Brennen, und bildet euch dabei nicht ein, dass das allein mit gutem Willen klappt. Der Glaube ist keine Frage des guten Willens, sondern der Glaube ist eine Gabe des Heiligen Geistes. Das Glaubenslicht kann nur dann weiterbrennen, wenn der Heilige Geist ihm Brennstoff gibt, Glaubensöl gewissermaßen. Dieses Glaubensöl ist aber nichts anderes als das Evangelium von Jesus Christus, seine Frohe Botschaft. Wenn wir von seiner Liebe hören, von seinem Opfer am Kreuz, von seiner Auferstehung und seiner Königsherrschaft, dann brennt der Glaube weiter. Wir müssen immer wieder nachfüllen, wir müssen immer wieder neu davon hören. Das Glaubenslicht erhält auch Brennstoff, wenn uns in der Beichte die Sünden vergeben werden und wenn wir im Heiligen Abendmahl den Leib und das Blut Christi empfangen. Klug und vorausschauend handelt der Christ, der sich angewöhnt, stets frisches Öl in sein Glaubenslämpchen nachzufüllen, sonntags im Gottesdienst sowie auch in täglichen Andachten. Ich kenne genug Beispiele von nicht so klugen Christen, die es nicht für nötig halten, ihrem Glauben immer wieder Brennstoff zuzuführen, sondern die selbstgefällig sagen: „Ich habe meinen Glauben!“ Und wenn ich dann nachfrage, was das denn für ein Glaube ist, dann stoße ich allzuoft nur auf Finsternis. Lassen wir uns also von Gott mit Glaubensöl versorgen, lassen wir unser Glaubenslicht brennen, und leben wir weiter in der herrlichen Vorfreude auf Gottes Hochzeitsfest im Himmel! Amen.
PREDIGTKASTEN |