Die Nähe zum Reich Gottes

Predigt über Markus 12,28‑34 zum 18. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Was ist das Wichtigste im Leben? Das Wichtigste ist, dass wir mit Gott verbunden sind und bleiben. Oder mit Worten der Bibel aus­gedrückt: dass wir zu Gottes Reich gehören, zum Himmel­reich. Darum suchen wir Gewissheit, dass wir zu Gottes Reich gehören. Und wir wünschen uns für andere Menschen, dass sie sich Gottes Reich annähern und schließlich auch hinein­kommen. Ein Mensch kann durchaus sehr verschieden nah an Gottes Reich sein; wir sehen das an dem Wort Jesu, mit dem unser heutiges Evangelium abschließt: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Lasst uns also einmal darüber nachdenken, was es denn heißt, fern vom Reich Gottes zu sein, oder eben nicht so fern.

Ganz weit weg vom Reich Gottes sind die Menschen, die Gott verleugnen oder verachten. Dazu gehören diejenigen, die nur Witze machen, wenn man mit ihnen über Gott reden will. Dazu gehören auch die überzeugten Atheisten, die meinen, außerhalb unserer wissen­schaftlich erforsch­baren Welt gäbe es nichts. Dazu gehören auch jene sogenannten modernen Theologen, die Gott als real exis­tierende Person leugnen und die Bibel lediglich als eine religions­geschicht­liche Quelle ansehen. Mit solchen Menschen kann man eigentlich nicht über den Glauben sprechen, man kann ihnen seinen Glauben nur bezeugen.

Dichter dran am Reich Gottes sind diejenigen, die in ihrem Herzen spüren, dass es da eine höhere Macht gibt. Viele von ihnen sagen sich aber: „Etwas genaues kann man über jenes höhere Wesen nicht sagen.“ Sie können sich auch nicht vorstellen, dass dieses höhere Wesen sich um uns Menschen kümmert oder dass wir mit ihm Kontakt aufnehmen können.

Noch dichter dran am Reich Gottes sind diejenigen, die diese höhere Macht nicht nur spüren, sondern sich ihr auch annähern wollen. Wir können dieses Menschen als „religiös“ bezeichnen, denn „religio“ heißt „An­bindung“. Sie sehnen sich nach einer Verbindung zu Gott und unternehmen allerlei, um diese Verbindung aufzubauen. Sie möchten, dass Gott ihnen wohl gesonnen ist und sie segnet, darum werben sie um Gottes Gunst und versuchen, ihm zu schmei­cheln. Sie versuchen das unter anderem mit Opfergaben, mit langen Gebeten, mit Askese und mit Meditation. Sie werben um Gottes Gunst wie ein junger Mann um die Gunst seiner Geliebten oder wie eine Firma um die Gunst ihrer Kunden. Freilich ist der wahre Gott wenig beeindruckt von solchen Schmeiche­leien. Auch die Propheten des Alten Testaments haben denjenigen Israeliten, die so handelten, deutlich gemacht, dass religiöse Übungen an sich Gott nicht gefallen. So ließ Gott zum Beispiel durch den Propheten Amos ausrichten: „Wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder, denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtig­keit wie ein nie ver­siegender Bach“ (Amos 5,22-23).

Wir sehen: Noch dichter dran am Reich Gottes sind die Menschen, deren Frömmigkeit sich in „Recht und Gerechtigkeit“ äußert. Das heißt: Sie wollen Gott vor allem dadurch gefallen, dass sie gut und richtig leben. Und wie lebt man gut und richtig vor Gott und den Mit­menschen? Die Antwort ist klar: indem man sich an die Zehn Gebote hält. Die sagen nämlich, was Gott wirklich gefällt. Darum sind alle Menschen, die mit Ernst nach den Zehn Geboten leben, ziemlich dicht dran an Gottes Reich. Früher war das eigentlich allen Menschen in Deutschland klar. Heutzutage leben wir leider in einer so gottlosen Zeit, dass vielen Menschen die Zehn Gebote nicht einmal mehr bekannt sind; in der Schule und im Elternhaus stehen sie ja oft nicht mehr auf dem Lehrplan.

Aber selbst wenn jemand die Zehn Gebote kennt und sich bemüht, danach zu leben, ist er immer noch nicht ganz dicht dran am Reich Gottes. Denn eigentlich geht es Gott gar nicht darum, dass wir uns formal nach bestimmten Gesetzen richten. Eigentlich möchte Gott, dass wir ihn einfach über alles lieben und dass wir unseren Mitmenschen ebensoviel Gutes tun, wie wir uns selbst Gutes gönnen. Diese Einstellung soll unser ganzes Leben und unser gesamtes Verhalten prägen: dass wir „Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen Kräften“, und dass wir unsere Nächsten so sehr lieben wie uns selbst. So hat Jesus ja auch dem Schrift­gelehrten geantwortet auf seine Frage nach dem höchsten Gebot. Die Zehn Gebote sind eigentlich nur Ausführungs­beispiele von diesem Doppelgebot der Liebe; sie stecken einen Rahmen ab, in dem sich die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Mitmenschen auswirkt. Der Schrift­gelehrte bejaht das von Herzen, und er erkennt auch, dass diese Gebote einem gott­gefälligen Leben viel näher kommen als Liturgien und Rituale. Er sagt zu Jesus: „Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlacht­opfer.“ Da bestätigt ihm Jesus, dass er ganz dicht dran ist an Gottes Reich, und sagt: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Jeder, der Gott über alles liebt und dem das Wohlergehen der Mitmenschen genauso wichtig ist wie sein eigenes Wohl­ergehen, der ist ganz dicht dran an Gottes Reich.

Ganz dicht dran – und doch noch nicht drin. Denn wem gelingt das so, wie Gott es fordert? Wer liebt Gott so sehr, dass er den Feiertag nicht nur äußerlich heiligt, indem er sonntags in die Kirche geht, sondern dass er in der Kirche stets gern und aufmerksam zuhört und beim Beten andächtig bei der Sache ist? Wer liebt seinen Mitmenschen so sehr, dass er ihn nicht nur am Leben lässt, sondern ihn nicht einmal im Geheimen für einen Trottel hält? Jesus hat in der Bergpredigt deutlich gemacht, dass er damit in Gedanken bereits das fünfte Gebot gebrochen hätte: „Du sollst nicht töten.“ Welcher Ehemann liebt seine Frau so sehr, dass er ihr nicht nur formal treu bleibt, sondern dass er auch niemals begehrliche Blicke auf andere Frauen wirft? Jesus hat in der Bergpredigt deutlich gemacht, dass er damit in Gedanken bereits das sechste Gebot gebrochen hätte: „Du sollst nicht ehe­brechen.“ Und welcher Christ vermeidet nicht nur jede Lüge, sondern redet auch von seinen Mitmenschen nur Gutes und bemüht sich nach Kräften, für ihr Fehl­verhalten plausible Entschuldi­gungen zu finden? So fordert es das achte Gebot, wenn wir es nicht nur formal und buchstaben­getreu verstehen, sondern wenn wir es im Lichte des höchsten Gebots betrachten: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Ganz dicht dran am Reich Gottes ist derjenige, der durch Gottesliebe und Menschen­liebe Gottes Wohl­gefallen erlangen und sich Gottes Nähe verdienen will – und doch noch nicht drin. Er scheitert letztlich an dem hohen Maßstab, den das Doppelgebot der Liebe setzt. Darum ist das Gesetz grund­sätzlich der falsche Weg, um in Gottes Reich zu kommen. Man kommt vielleicht sehr dicht heran, aber man kommt nicht hinein. Hinein kommt man nur, wenn man die einzige Tür findet, die uns Menschen offen steht: Das ist der Glaube an Jesus Christus. Der Glaube, dass Jesus stell­vertretend für uns alles getan hat, um Gott zu gefallen, und dass er uns so den Himmel aufgetan hat. „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“, heißt es im Römerbrief (Römer 3,28). Nur wenn wir alle Selbst­gerechtig­keit aufgeben und es Jesus überlassen, uns ins Himmelreich hinein­zuführen, kommen wir wirklich hinein. Diese wunderbare Erfahrung machen alle, die sein Evangelium hören und glauben. Diese wunderbare Erfahrung haben unzählige Menschen gemacht, gleich ob sie vorher ganz weit weg waren oder nahe dran. Denn letztlich ist nicht die Entfernung ent­scheidend, sondern ob wir die Tür des Glaubens finden. Und wenn wir sie gefunden haben und drin sind, dann lasst uns nicht mehr versuchen, Gott gnädig zu stimmen, denn er ist ja schon gnädig durch unseren Heiland. Wir wollen ihn ganz einfach aus Freude und Dank lieb haben, ohne Hinter­gedanken. Und ebenso wollen wir auch unsere Mitmenschen lieb haben. Und ebenso wollen wir gern aus freien Stücken die Zehn Gebote achten und unser Leben nach ihnen ausrichten. Und ebenso wollen wir ihn auch fröhlich loben und ehren mit den Dankopfern aus unseren Mündern und aus unseren Portmonees – aber alles freiwillig aus Dank und Liebe, ohne den Hinter­gedanken, dass wir damit bei Gott Punkte sammeln können. Lasst uns das nie vergessen: Hinein­gekommen ins Reich Gottes sind wir nicht durch irgend­welche eigenen Leistungen und Verdienste, sondern durch Gottes Gnade und durch die Erlösung unseres Herrn Jesus Christus, die wir im Glauben annehmen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2009.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum