Was ist ein Tempel?

Predigt über Lukas 19,45‑47 zum 10. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Vielleicht kennt ihr die folgende Ankedote, die immer wieder mit den unter­schiedlichsten Variationen erzählt wird. Ein Rabbiner spricht zu einem Kind: „Ich gebe dir einen Gulden, wenn du mir sagen kannst, wo Gott ist.“ Darauf das Kind: „Und ich gebe dir einen Gulden, wenn du mir sagen kannst, wo Gott nicht ist.“ Schlag­fertig ist das Kind, und recht hat es: Gott ist überall; er ist all­gegen­wärtig. Gott sprach durch den Propheten Jeremia: „Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?“ (Jer. 23,24). Aber dennoch hat Gott sich im alten Israel einen bestimmten Wohnort aus­gesucht – einen Ort, „wo mein Name wohnen soll“, wie er selbst sich aus­drückte. Das war der Tempel in Jerusalem. Da fragen wir uns nun: Wieso braucht Gott einen besonderen Wohnort, wenn er doch überall zu Hause ist? Die Antwort lautet: Gott wollte, dass sein Volk Israel ihn an einem bestimmten Ort finden kann. Er wollte, dass die Israeliten in den Tempel kommen, ihn dort anbeten, ihn um Hilfe bitten und die Gewissheit haben: Hier ist Gott nicht nur einfach da, sondern hier ist er für uns da. Hier ist Gott uns gnädig, hier hilft er uns. Ja, das war der Sinn des Tempels: ein Ort, wo Gott in seiner Barmherzig­keit für sein Volk da ist.

Und wie ist das mit uns heute, mit Gottes Volk des neuen Bundes? Auch wir haben einen Tempel; auch wir haben einen Ort, wo Gott in seiner Barmherzig­keit für uns da ist. Aber dieser Ort ist nicht mehr ein bestimmter Punkt auf der Land­karte wie der Jerusa­lemer Tempel. Dieser Ort ist vielmehr das Herz eines Christen­menschen, denn darin wohnt Jesus. Mit Jesus finden wir Gottes Barmherzig­keit und Hilfe, und wenn Jesus in unseren Herzen wohnt, dann sind wir selbst Gottes Tempel. Bedenkt doch, was uns Gott damit geschenkt hat aus lauter Liebe! Wir selbst sind Tempel des Herrn und brauchen daher nicht erst in ein bestimmtes Gebäude oder an einen bestimmten Ort zu gehen, um zu beten und um Gott zu finden. Ob du zu Hause in deinem Wohn­zimmer bist, ob du auf der Autobahn im Stau stehst, ob du im Kranken­haus auf der Intensiv­station liegst: Immer hast du deinen Tempel mit dabei, denn du selbst bist der Tempel, Jesus wohnt in deinem Herzen. Überall kannst du Gott anrufen, kannst ihn bitten und alles Heil von ihm erwarten.

In unserem Predigt­text, dem heutigen Sonntags­evangelium, macht Jesus durch Wort und Tat deutlich, wozu ein Tempel da ist und was ein Tempel nicht sein soll. Das ist nicht nur ein interes­santer Bericht für den geschichts­bewussten Bibelleser, sondern da können wir auch etwas für die heutige Zeit lernen, wo es den Jerusalemer Tempel nicht mehr gibt. Was Jesus nämlich da über den Tempel lehrt, das gilt auch für uns selbst, für unseren Herzens­tempel.

Und was ist es, was Jesus da lehrt? Drei Dinge lehrt er uns vom Tempel:

1. Der Tempel ist keine Räuberhöhle.

2. Der Tempel ist ein Bethaus.

3. Der Tempel ist ein Lehrhaus.

Erstens: Der Tempel ist keine Räuber­höhle. Jesus wurde sehr ärgerlich, als er merkte, dass seine Zeit­genossen mit ihren Geschäften den Tempel eben dazu machten: zu einem Kaufhaus und zu einer Räuber­höhle. Jesus hat zwar alle Menschen lieb, aber das hinderte ihn nicht daran, die Händler und Geld­wechsler hinaus­zuwerfen und ihnen zuzurufen: „Ihr habt mein Haus zu einer Räuber­höhle gemacht!“

Vor einem Jahr konnte ich an einer Führung teil­nehmen in der Not­unterkunft der Berliner Stadt­mission für Obdach­lose, wo sie in kalten Nächten Zuflucht finden können. Ich erfuhr: Die ehren­amtlichen Helfer, die da mitarbeiten, müssen zwar diese armen Menschen lieb haben, sie dürfen aber nicht zu weich und liebens­würdig sein, sonst würde das Chaos aus­brechen. Sie müssen die Leute nach Drogen durch­suchen und notfalls auch Haus­verbote aus­sprechen, bei aller Liebe. So hat Jesus auch im Tempel ein Haus­verbot aus­gesprochen für alle, die den Ort zum Schachern und Wuchern miss­brauchten, bei aller Liebe. Nein, der Tempel ist keine Räuber­höhle, das macht Jesus un­missverständ­lich klar.

Dasselbe gilt für den Tempel unserer Herzen. Weil Jesus in unseren Herzen wohnt, soll die Habgier darin keinen Platz haben. Wir sollten uns also davon frei machen, dass wir stets den eigenen Vorteil suchen und immer das größte und beste Stück ab­bekommen wollen. Wir sollten uns davor hüten, zu schachern und zu wuchern und andere zu über­vorteilen. Nein, unser Herz darf auf keinen Fall eine Räuber­höhle sein, denn es ist ein Tempel; da wohnt Jesus drin.

Unseren Nächsten sollen wir nicht berauben, und erst recht nicht Gott. Diese Gefahr besteht tat­sächlich: Dass wir Gott berauben. Dass wir ihn nämlich seiner Ehre berauben. Dass wir in unserem Herzen uns selbst für groß halten, oder irgend­welche Menschen, die wir bewundern, oder die Fortschritte der Wissenschaft. Wenn wir vor irgend­jemand oder irgend­etwas mehr Hoch­achtung haben als vor Gott, dann haben wir ihm schon die Ehre geraubt, dann haben wir schon eine Räuber­höhle aus dem Herzen gemacht.

Auch aufs Geschäfte­machen mit Gott sollten wir uns niemals einlassen. Wir sollten niemals sagen: Gott, wenn du mich gesund machst oder wenn du mir den gewünschten Arbeitsplatz gibst, dann werde ich viel Geld spenden, oder dann werde ich jeden Sonntag zur Kirche kommen. Auch nicht: Gott, ich bin doch ziemlich fromm, ich tue viel für dich und deine Kirche, da kannst du mir doch keine Schicksals­schläge zumuten! Wer so im Tempel seines Herzens denkt, der ist wie der Pharisäer, der in den Tempel ging – nicht eigentlich um zu beten, sondern um vor Gott anzugeben mit seiner Frömmigkeit. Auf diese Weise raubte er Gottes Ehre, auf diese Weise machte auch er den Tempel zur Räuber­höhle (Lukas 18,9-12).

Nein, der Tempel ist keine Räuberhöhle, der Tempel ist ein Bethaus. Als Jesus die Händler aus dem Tempel warf, da sagte er ihnen: „Mein Tempel soll ein Bethaus sein!“ Ein Haus, wo man sich bewusst wird: Hier wohnt Gott, hier begegne ich dem Schöpfer des Himmels und der Erde. Ein Haus, wo man diesen all­mächtigen Herrn anbetet. Wer Gott lobt und ihn anbetet, der gibt ihm die Ehre, die ihm gebührt, anstatt sie ihm zu rauben. So soll das auch mit unserem Herzens­tempel sein: Unser Herz, unser Leib, unser ganzes Leben soll ein einziges Gottes­lob sein. Das ist der Sinn unseres Lebens, dazu sind wir durch den Herrn Jesus Christus berufen: Dass wir etwas sind zur Ehre Gottes. Dies geschieht nicht nur, wenn wir Dank­gebete sprechen und Lob­gesänge singen. Dies geschieht in allem, was wir tun, mit Worten und mit Werken. Wenn wir heilig leben, Liebe üben, Freude verbreiten, helfen und trösten, dann ehren wir damit zugleich immer den himmlischen Vater in unserem Herzens­tempel, dann beten wir ihn an.

Aber wenn Jesus vom Tempel sagt: „Mein Haus soll ein Bethaus sein“, dann meint er damit nicht nur die Anbetung, sondern auch ganz konkret die Bitte um Hilfe. Wir erinnern uns: Der Tempel ist der Ort, wo Gott in seiner Barmherzig­keit zu finden ist, wo er helfen will. So kam der gewissens­geplagte Zöllner in den Tempel, schlug an seine Brust und betete: „Gott sei mir Sünder gnädig!“ (Lukas 18,13). Indem er sich selbst demütigte, erhöhte er Gott, gab ihm alle Ehre und erbat zugleich seine Hilfe. Wir wissen, dass er sie auch gefunden hat, denn Gott vergab ihm. Dieselbe gewisse Zuversicht dürfen wir auch im Tempel unseres Herzens haben. Da können wir Jesus stets um Hilfe bitten, zu jeder Zeit und an jedem Ort, und da können wir über­zeugt sein: Er hört uns und ist für uns da; er wird helfen und heilen. Und diese Heilung beginnt an der Wurzel allen menschlichen Elends und Verderbens, bei unserer Sünde nämlich. Wenn wir im Tempel unseres Herzens beten: „Vergib uns unsere Schuld!“, dann können wir gewiss sein: Jesus vergibt uns, hat uns schon vergeben, macht uns heil und ewig selig. Nicht als Geschäfte­macher sind wir im Tempel, sondern als Bitt­steller, die sich ihrer erbärm­lichen Stellung durchaus bewusst sind und um Gnade flehen.

Drittens: Der Tempel ist ein Lehrhaus. Das hat Jesus zwar nicht gesagt, aber er hat es mit seinem Beispiel gezeigt: „Er lehrte täglich im Tempel“, heißt es von ihm, nachdem er die Händler ausgetrieben hatte. Auch die Priester des Alten Bundes haben im Tempel gelehrt: Sie haben Gottes Wort vor­gelesen und ausgelegt. Wer in den Tempel kam, um Gott zu ehren und um ihn zu bitten, der sollte auch von ihm hören und nach seinen Geboten leben lernen. Dasselbe gilt noch heute für den Tempel unseres Herzens. Auch der soll ein Lehrhaus sein. Auch da soll Jesus uns täglich Gottes Wort lehren, damit unser Glaube erhalten bleibt, wächst und reift. Martin Luther hat es in der Erklärung des dritten Gebots bewusst so allgemein formuliert: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir die Predigt und sein Wort nicht verachten, sondern es heilig halten, gerne hören und lernen.“ Wir tun gut daran, aufmerksam hin­zuhören, wenn sonntags aus der Heiligen Schrift vorgelesen wird und Gottes Wort in der Predigt auslegt wird. Wir tun gut daran, auch in täglichen Andachten Gottes Wort zu hören und zu lernen. Wieviel Schädliches und wieviel dummes Zeug dringt täglich an unsere Augen und Ohren, da brauchen wir die gesunde Lehre Gottes als tägliches Gegen­mittel. Täglich lehrte Jesus damals im Tempel, täglich soll er auch im Tempel unseres Herzens lehren. Wir sind darauf angewiesen wie der Spitzensportler auf sein Training. Der Sportler weiß: Wenn er für ein paar Tage, Wochen oder gar Monate aussetzt, so wirft ihn das zurück. Ebenso wirft es unseren Glauben zurück, wenn wir nach­lässig werden im Lernen von Gottes Wort. Der ältestes Name für Christen ist bezeichnender­weise „Jünger“, „Lernende“, also Menschen, die in beständiger Gemeinschaft mit ihrem Herrn und Meister leben und täglich von ihm lernen.

Lasst uns darum auch heute bereitwillig die Lehre mitnehmen, die unser Herr uns durch sein Wort geschenkt hat: Ein Tempel ist keine Räuber­höhle, sondern ein Bethaus und ein Lehrhaus. Das gilt auch für den Tempel unseres Herzens. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2009.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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