Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
„Sammelt euch und kommt her, du Volk, das keine Scham kennt!“, forderte der Prophet Zefanja vor gut zweieinhalbtausend Jahren die Bürger Jerusalems auf, und ich gebe dieses Gotteswort direkt weiter an das Europa des 21. Jahrhunderts, an das christliche Abendland, an das Volk der Reformation: „Sammelt euch und kommt her, du Volk, das keine Scham kennt!“ Ja, eine schamlose Gesellschaft sind wir geworden, das merkt jeder, der noch ein bisschen Gewissen übrig hat und der noch etwas von Gottes Geboten weiß. „Sammelt euch und kommt her, du Volk, das keine Scham kennt, ehe ihr werdet wie Spreu, die vom Winde dahinfährt!“ Ein schamloses Volk wird wie Spreu, wie ein Blätterhaufen im Herbst: Ein kräftiger Windstoß genügt, und der Haufen zerstreut sich. Ein schamloses Volk verliert seinen Zusammenhalt, denn es verliert die wesentlichen gemeinsamen Werte, die es zusammenhalten, Werte wie Gottesfurcht und Nächstenliebe. Ein schamloses Volk wird pluralistisch; der Einzelne wird zum treibenden Blatt im Wind des Zeitgeistes. Da wird heute zwar viel über die Integration von Ausländern geredet, und doch kann sie nicht gelingen, weil kein stabiles Gemeinschaftsgefüge mehr da ist, in das hinein Ausländer integriert werden könnten. Die einen treibt es sonntags in die Kirche, die anderen ins Einkaufszentrum. Die einen leben in Ehen ohne Trauschein, die anderen mit Trauschein, und von diesen gelobt nur ein Teil, dem Partner bis zum Lebensende treu zu sein. Auch unsere Buß- und Bettags-Kultur zeugt davon, dass wir in Deutschland wie Spreu im Wind geworden sind: Noch im Jahre 1893 hat es die Obrigkeit für gut befunden, die verschiedenen regionalen Bußtage zu einem landesweiten Buß- und Bettag am Mittwoch in der letzten Woche des Kirchenjahres zusammenzufassen, damit das Volk sich an diesem Tag sammelt, um gemeinsam in Buße und Fürbitte vor Gott den Herrn zu kommen. Dann kamen die Windstöße des 20. Jahrhunderts: Der Bußtag wurde im 2. Weltkrieg abgeschafft, danach wieder eingeführt, in der DDR 1966 wieder abgeschafft, nach der Wende 1990 wieder gesamtdeutsch eingeführt und schließlich 1995 zugunsten der Pflegeversicherung wieder abgeschafft; jedenfalls als gesetzlicher Feiertag (mit Ausnahme von Sachsen). „Sammelt euch und kommt her, du Volk das keine Scham kennt, ehe ihr werdet wie Spreu, die vom Winde dahinfährt!“ Aber wir sind schon wie Spreu geworden in Deutschland; es sind nur noch wenige, die sich zum Buß- und Bettag vor Gottes Angesicht sammeln. Viele denken überhaupt nicht mehr daran, dass heute Buß- und Bettag ist.
Nun, wir wollen deswegen nicht vedrießlich werden, sondern trotzdem Gottes Aufruf zur Buße nachkommen: „Sammelt euch und kommt her!“ Es ist gut und wichtig, dass wir Christen zusammenkommen und zusammenhalten, besonders in der heutigen Zeit, wo wir so wenige geworden sind. Dass wir uns nur ja nicht auch auseinanderpusten lassen wie Spreu! Auch wenn wir nur wenige sind, die sich hier versammelt haben, so ist das besser als nichts. Es ist, gut dass wir uns heute hier zum Buße-Tun und Beten versammelt haben, ganz gleich, wie viele wir sind, und ganz gleich, ob heute Werktag oder Feiertag ist. Hüten wir uns aber davor, dass wir das Sammeln und Herkommen nur rein äußerlich befolgen. Gott möchte, dass wir uns auch im Herzen sammeln, dass wir unsere Gedanken in rechter Andacht auf Gott konzentrieren und uns bewusst machen: Wir kommen hier zum höchsten König, zum Herrn des Himmels und der Erde. Kein anderer als er selbst ist es, der uns zuruft: „Sammelt euch und kommt her!“
Ja, Herr, hier sind wir, hier haben wir uns in deinem Namen versammelt. Was sollen wir nun tun?
Hört weiter, was Gottes Wort uns zu sagen hat: „Suchet den Herrn!“ Nicht, dass Gott verloren gegangen wäre und wir ihn suchen müssten wie die Stecknadel im Heuhaufen; Gottes wunderbare Macht kann man überall in seiner Schöpfung erkennen, und seinen wunderbaren Willen kann man in jeder Bibel nachlesen. Nein, Gott ist nicht verloren gegangen, und er versteckt sich auch nicht; trotzdem sollen wir ihn suchen. Aufsuchen sollen wir ihn nämlich, Rat und Hilfe sollen wir bei ihm suchen. Da sind wir haargenau beim Thema des Buß- und Bettages: Buße tun und beten ist nichts anderes als Gott suchen, als ihn aufsuchen und bei ihm Rat und Hilfe suchen. Wenn wir hier in der Kirche von Buße reden, hat das ja nichts mit Strafe zu tun, nichts mit Schuld abbüßen und Bußgeld zahlen. Wenn wir hier von Buße reden, dann ist damit eine Umkehr gemeint, eine Wende, ein Neuanfang: Wir merken, wie tief wir in der Tinte stecken, wie wir uns mit unserem Leben verzettelt haben, wie wir uns in Sünde verstrickt haben. Wir wünschten, wir wären da nie hineingeraten, und möchten nichts lieber als da heraus kommen. Zugleich ist uns bewusst, dass wir mit eigener Kraft nichts ausrichten können. Da suchen wir dann Gott auf und bitten ihn um Rat und Hilfe. Wir tun es im festen Vertrauen, dass er uns nicht im Stich lässt, sondern die Wende herbeiführt. Ja, nichts anderes geschieht, wenn wir Buße tun und beten. Da merken wir: Buße ist eigentlich nichts Schlimmes oder Unangenehmes, sondern etwas überaus Hilfreiches und Hoffnungsvolles!
Freilich: Wer Buße tun will, muss zugeben, dass er hilflos ist – das fällt manchen sehr schwer. Wer Buße tun will, muss sein Elend einsehen und Sehnsucht haben, nach Gottes Willen zu leben. Darum heißt es: „Suchet den Herrn, alle ihr Elenden im Lande, die ihr seine Rechte haltet!“ Gott weiß: Nur wenn der Leidensdruck groß genug ist über die Sünde und ihre Folgen, und nur wenn jemand Gottes Herrschaft anerkennt, macht es Sinn, den Herrn zu suchen. Wer das Gebet nur als eine meditative Selbstfindungsübung ansieht, der sollte es lieber ganz lassen; der hat noch nicht begriffen, worum es geht. Richtig Buße tun und richtig Beten heißt das eigene Elend erkennen und in dieser Situation Gott um Rat und Hilfe aufsuchen.
Und worum sollen wir dann bitten? Welche Wende sollen wir erhoffen? Etwa, dass Gott uns und unsere Welt wie mit einem Zauberstab berührt und alles gut wird? Lasst uns weiter hören, was er selbst sagt in seinem Wort: „Suchet Gerechtigkeit, suchet Demut!“ Ja, welche Gerechtigkeit denn? Martin Luther hat uns mit der Reformation die Augen geöffnet: Nicht unsere menschliche Gerechtigkeit, sondern Gottes eigene Gerechtigkeit! Die Gerechtigkeit, die Gott uns durch seine Sohn frei und umsonst schenkt! In diesem Wort „Gerechtigkeit“ blitzt schon im Alten Testament immer wieder die Gnade Gottes auf, das strahlende Gesicht unseres Herrn Jesus Christus, der uns barmherzig anschaut! Sucht diese Gerechtigkeit! Diese Gerechtigkeit, die nur in der Demut des Glaubens zu finden ist. Der hochmütige Pharisäer rühmte sich vor Gott seiner eigenen Gerechtigkeit und der Werke seiner Frömmigkeit. Der demütige Zöllner dagegen war sich seines Elends bewusst und suchte den Herrn auf mit der Bitte: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Eben dieser Zöllner verließ den Tempel gerechtfertigt, lehrt Jesus, nicht der Pharisäer. Das ist die Gerechtigkeit, die wir suchen sollen, und das ist die Gerechtigkeit, die wir gewiss auch finden werden: nämlich die Vergebung aller Sünden und der Neubeginn zum ewigen Leben, den Christus uns erworben hat. Darum sind wir hier, darum tun wir hier Buße, darum beten wir hier; und genau dazu fordert Gott uns auf in seinem Wort: „Suchet Gerechtigkeit, suchet Demut!“
Der Prophet Zefania hat das damals vor dem Hintergrund eines nahenden „Tages des Herrn“ gepredigt. Er hat ihn einen „Tag des Zorns“ genannt, an dem „des Herrn grimmiger Zorn“ über das Volk kommen wird. Ein schrecklicher Tag, ein schreckliches Strafgericht Gottes! Gut dreißig Jahre später ist dieser Tag dann wirklich gekommen: Der Tag, an dem Nebukadnezar und die Babylonier Jerusalem total verwüsteten. Was für ein entsetzliches Strafgericht Gottes, was für ein „Tag des Herrn“! Aber es war nicht der einzige derartige „Tag des Herrn“ in der Geschichte Israels und in der Weltgeschichte. Im Jahre 70 nach Christus war es wieder so weit: Die Römer machten Jerusalem und den Tempel dem Erdboden gleich; bis heute ist von ihm nur noch die Klagemauer übrig geblieben. Auch für Deutschland gab es „Tage des Herrn“, in Dresden zum Beispiel und in Berlin am Ende des Zweiten Weltkriegs. So ist der Begriff „Tag des Herrn“ letztlich der Inbegriff für einen Tag göttlicher Abrechnung, und damit auch ein Begriff für den Jüngsten Tag. Angesichts der Schamlosigkeit der Menschen hat Gott nicht vor, den Jüngsten Tag ausfallen zu lassen; auch das Neue Testament bestätigt uns klar und nüchtern, dass der Jüngste Tag ein Tag von Gottes Zorn sein wird, ein gigantisches göttliches Strafgericht. Wir können ihn nicht abwenden, auch nicht durch unser Buße-Tun und Beten heute. Aber wenn wir angesichts dieses kommenden Schreckenstages Gott um Rat und Hilfe ersuchen, dann finden wir einen Schutzraum, einen Bunker gewissermaßen, wo wir in Sicherheit sind am „Tag des Herrn“. Ja, da können wir uns bergen, da finden wir die feste Burg. Zefanja hat es schon vorausgesehen, von fern zwar, noch dunkel und verschwommen. Er sagte denen, die Buße taten, damals: „Vielleicht könnt ihr euch bergen am Tage des Zorns des Herrn.“ Mit dem Kommen Jesu Christi in die Welt hat Gott aus dem „Vielleicht“ ein „Gewiss“ gemacht: „Gewiss könnt ihr euch bergen am Tage des Zorns des Herrn.“ In dieser Gewissheit tun wir Buße, am Bußtag und an jedem Tag; in dieser Gewissheit leben wir; in dieser Gewissheit wollen wir sterben: Herr Jesus Christus, in deine heiligen Wunden verberge ich mich; da bin ich geborgen am Tag des Herrn; da bleibe ich geborgen in Ewigkeit! Amen.
PREDIGTKASTEN |