Herr Reich, Herr Arm und Herr Median

Predigt über Sprüche 30,8b‑9 zum Erntedankfest

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Welcher Bauer kann am fröh­lichsten Erntedank­fest feiern? Der Bauer, der eine durch­schnittlich gute Ernte eingebracht hat! Denn bei einer ärmlichen Ernte trübt die Sorge über den Mangel die Erntedank­freude. Bei einer Rekordernte ist der Bauer aber auch nicht froh, weil dann die Erzeuger­preise ins Bodenlose fallen und er mit seinem Überfluss zwar viel Arbeit hat, aber nicht viel verdienen kann. Die Durch­schnitts­ernte ist es, die den Bauern am fröh­lichsten Gott danken lässt, und Gott sei Dank sind ja auch die meisten Ernten Durch­schnitts­ernten.

Was für den Bauern und seine Ernte­früchte gilt, das gilt im über­tragenen Sinn für uns alle und für unser gesamtes Einkommen. Dabei ist es egal, ob die Ernte aus einer monatlichen Gehalts­zahlung besteht oder aus dem Gewinn einer selb­ständigen Tätigkeit oder aus einer Rente oder aus einem wöchent­lichen Taschen­geld: Die besten Voraus­setzungen für einen fröhlichen und gesegneten Erntedank hat man dann, wenn die „Ernte“ durch­schnittlich ist, wenn man also ein Einkommen hat, mit dem man gerade gut auskommen kann. Diese Erkenntnis bestätigt uns Gottes Wort mit dem heutigen Predigt­text. Das Wort aus den Sprüchen Salomos legt uns nämlich folgendes Gebet ans Herz: „Armut und Reichtum gib mir nicht, lass mich aber mein Teil Speise dahin­nehmen, das du mir beschieden hast.“ Ja, so sollen wir beten: Gott möge uns vor Mangel beschützen, aber ebenso auch vor Überfluss. Bitte also niemand Gott darum, reich zu werden! (Man sollte dann aber konse­quenter­weise auch nicht Lotto spielen mit der Hoffnung auf einen Millionen­gewinn, das wäre nämlich kontra­produktiv zu so einem Gebet!) Am besten kann man leben und am fröh­lichsten Gott danken, wenn man im Mittelfeld lebt, wenn man sein Auskommen hat, wenn man das richtige Maß von allem Notwendigen bekommt, „mein Teil Speise“ zum baldigen Verbrauch. Auch die meisten pflanz­lichen Ernte­früchte sind ja zum baldigen Verbrauch bestimmt; Gott hat sie ganz bewusst so geschaffen. „Armut und Reichtum gib mir nicht, lass mich aber mein Teil Speise dahin­nehmen, das du mir beschieden hast“ – dieses Gebet ist fast inhalts­gleich mit der vierten Bitte des Vater­unsers: „Unser tägliches Brot gib uns heute.“

Nun, da können wir hier ja alle ganz zufrieden sein, denn ich nehme mal an, dass hier niemand von den zehntausend ärmsten Deutschen unter uns ist, und auch niemand von den oberen zehn­tausend. Die meisten von uns stehen wahr­scheinlich näher beim Herrn Median – so will ich mal den Durch­schnitts­verdiener nennen. „Median“ ist eigentlich ein Fachwort aus der statis­tischen Mathematik, und es bedeutet folgendes: Angenommen, alle 80 Millionen Deutschen würden sich in einer langen Schlange hinter­einander aufstellen, ihrem Einkommen nach geordnet, der Groß­verdiener ganz vorn (das wäre Herr Reich), und der Ärmste ganz hinten (das wäre Herr Arm). Herr Median würde dann in der Mitte stehen; 40 Millionen reichere Deutsche stünden vor ihm und 40 Millionen ärmere Deutsche stünden hinter ihm. Das Einkommen von Herrn Median ist der sogenannte Medianwert aller deutschen Einkommen. Wer sich in der Nähe von Herrn Median befindet, darf sich glücklich preisen, denn Gott hat ihm gerade den Platz gegeben, den wir uns mit unserem Predigttext und im Vaterunser erbitten sollen.

Nun finden wir in unserem Predigttext aber nicht nur diese Bitte um Durch­schnittlich­keit, sondern wir finden auch eine Begründung, warum das so ist. Warum also hat es Herr Median so gut, warum kann er am fröhl­ichsten Erntedank feiern? Die biblische Antwort lautet, kurz gefasst: Weil er nicht so gefährlich lebt wie Herr Reich und Herr Arm! (Ich könnte übrigens ebensogut von Frau Median, Frau Reich und Frau Arm reden, das würde den Sinn nicht ändern.)

Blicken wir zunächst auf Herrn Reich: Herr Reich lebt gefährlich! Seine Ernte­dankfreude, sein Glaube und sein Leben sind gefährdet, weil er so reich ist. Unser Predigttext bezeichnet diese Gefahr als „zu satt sein“. Herr Reich ist „zu satt“, er konsumiert zuviel, er besitzt zuviel, er schleppt zuviel Ballast mit sich herum. Die irdische Seite dieser Gefahr ist uns allen bekannt, zum Beispiel Über­gewicht, Herz­krankheiten, Sorgen um die Sicherung des Vermögens in wirtschaft­lich unruhigen Zeiten, schließlich auch der Geiz.

Unser Predigttext aber betont vor allem die geistliche Gefahr des Zu-Satt-Seins. Da steht: „Ich könnte, wenn ich zu satt würde, lügen und sagen: Wer ist der HERR?“ Der Reiche steht in der Gefahr, dass er kein Dankgebet spricht, ja, dass er überhaupt nicht mehr mit Gott spricht, sondern dass er stattdessen zu sich selbst spricht und sagt: Wer ist denn dieser Herr Gott, dass ich ihn um etwas bitten sollte? Ich habe doch sowieso mehr als genug, ich kann mich auf mich selbst und meinen Reichtum verlassen, der gibt mir Sicherheit! Und warum sollte ich Gott danken? Schließlich habe ich mir alles selbst erarbeitet, ich habe Erfolg und genieße jetzt einfach die Früchte meiner Arbeit! Wer so redet, der „lügt“, sagt unser Predigt­text. Er belügt sich selbst, er macht sich etwas vor, denn er sieht nicht, wem er seinen Reichtum in Wahrheit zu verdanken hat. Dieser Gefahr ist der legendäre reiche Kornbauer aus dem Erntedank-Evangelium erlegen. Auch der hat nicht mit Gott geredet, sonder mit sich selbst; er hat nämlich gesagt: „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!“ (Lukas 12,19). Gott hat ihn dann sehr unsanft daran erinnert, wie zer­brechlich irdischer Reichtum ist und wer sein Leben in Wahrheit in der Hand hat. Dieser Herr Reich war nicht reich für Gott, er ehrte Gott nicht, er dankte ihm nicht, er redete nicht einmal mit ihm, weil ihn sein Reichtum verblendet hatte; darum verlor er sein Leben. Im Gleichnis vom vierfachen Acker nennt Jesus den Reichtum als eines der Unkräuter, die den guten Samen von Gottes Wort im Herzen der Menschen ersticken können (Matth. 13,22). Und als Jesus einmal einen reichen jungen Mann kennen­lernte, der der Gefahr seines Reichtums zu erliegen drohte und sich dabei noch einbildete, er würde tadellos alle Gebote Gottes halten, da riet er ihm, seine Habe zu verkaufen und ein Jünger Jesu zu werden (Matth. 19,16‑22). Das, was die Gebote eins und acht verbieten, kann Herrn Reich besonders gefährlich werden: die Lüge und der Götzen­dienst. Es ist eine hochmütige Lüge, nämlich die selbst­betrüge­rische Meinung, man brauche Gott nicht, sondern lebe durch seinen Reichtum und durch das, was man sich selbständig erarbeitet.

Blicken wir nun auf Herrn Arm: Herr Arm lebt ebenfalls gefährlich. Seine Erntedank­freude, sein Glaube und sein Leben sind gefährdet, weil er so arm ist. Damit ist nicht so sehr die sogenannte „neue Armut“ in Deutschland gemeint, die ja für niemanden wirklich lebens­bedrohlich ist, sondern die lediglich bedeutet, dass man mehr oder weniger heftige Einbußen im Lebens­standard erleidet. Wenn die Bibel von Armut redet, dann meint sie damit eine existenz­bedrohende, absolute Armut. Die Last des wirklich Armen ist nicht der Ballast des Über­flusses, sondern die schier erdrückende Last der Sorge um das tägliche Brot. Wer ganz arm ist, weiß sich oft nicht anders zu helfen als zu stehlen, wenn ihn der Hunger plagt. Solchen Diebstahl aus Hunger nennt unser Predigttext nun als eine Gefahr der Armut. Die Älteren unter uns, die sich noch an die Nachkriegs­zeit erinnern können, wissen es: Wenn der Hunger plagt und schreck­liche Armut herrscht, dann werden plötzlich auch anständige Menschen zu Dieben. Das bürgerliche Gesetz drückt an dieser Stelle übrigens wohlwollend ein Auge zu und lässt den sogenannten „Mundraub“ ungestraft, aber dennoch ist auch der Mundräuber vor Gott und seinem Gewissen ein Dieb. Außerdem tritt neben die Versuchung zum Diebstahl noch die Versuchung zum Neid gegenüber denen, die es besser haben, vielleicht auch das Selbst­mitleid oder gar die Ver­zweiflung.

Auch bei Herrn Arm hat die Gefahr der Armut eine tiefere geistliche Seite. Wir lesen: „Wenn ich zu arm würde, könnte ich stehlen und mich an dem Namen meines Gottes ver­greifen.“ Ja, auch der Arme steht in der Gefahr, dass er keine Dankgebete mehr spricht. Not lehrt nämlich keineswegs immer beten, sie lehrt viele leider eher fluchen. Genau das meint unser Predigttext mit dem Ausdruck „sich an dem Namen Gottes ver­greifen“. Wenn Herr Arm sich von Gott im Stich gelassen fühlt und deshalb mit seinem Schöpfer hadert, dann verhält er sich ähnlich wie Herr Reich, wenn dieser der Gefahr des Reichtums erliegt: Er redet nicht mehr mit Gott, dankt nicht und bittet auch nicht, sondern er redet mit sich selbst und verflucht in seinem Herzen den Herrn. So nennt Jesus im Gleichnis vom vierfachen Acken nicht nur den Reichtum, sondern auch die Sorge um die materiellen Dinge als eines der Unkräuter, die den guten Samen von Gottes Wort im Herzen der Menschen ersticken können (Matth. 13,22). Die Problem-Gebote von Herrn Arm sind also das zweite und das siebente: Er ist versucht, den Namen Gottes zu miss­brauchen und zu stehlen.

Am besten hat es, wie gesagt, Herr Median; der kann unbeschwert und fröhlich Gott dafür danken, dass er ihm gerade das rechte Maß an materiellen Gütern beschert. Was aber, wenn nun doch jemand unter uns ist, der eher dem Herrn Reich gleicht oder dem Herrn Arm und nicht dem Herrn Median? Was sollte ich dem raten? Wenn wir uns nicht nur mit allen Deutschen ver­gleichen, sondern mit allen Menschen der Welt, dann wären wir ja tatsächlich keine Mediane mehr, denn wir leben in einem der Länder, die den höchsten Lebens­standard auf der ganzen Welt haben. Was bedeutet das aber, wenn wir uns auf diese Weise plötzlich am Platz von Herrn Reich wieder­finden? Gilt uns dann der Rat, den Jesus dem reichen Jüngling gegeben hat: „Verkaufe alles, was du hast“? Nun, wenn jemand von seinem Reichtum innerlich so abhängig ist wie der Alkoholiker von der Flasche, dann wäre in der Tat zu überlegen, ob er nicht diesen radikalen Schritt wagen sollte. Aber nun ist ja nicht jeder, der Alkohol trinkt, gleich ein Alko­holiker, und nicht jeder Reiche macht seinen Besitz zum Götzen. Ent­scheidend für Erntedank­freude, Glaube und Leben ist vielmehr etwas ganz anderes: der un­vergängliche „Schatz im Himmel“, den Jesus dem reichen Jüngling in Aussicht gestellt hat und der bewirkt, dass ein Mensch „reich ist bei Gott“. Es ist die Erlösung durch Jesus Christus, die uns mit der Taufe geschenkt wurde. Wer diesen Schatz hat, ist über die Maßen reich, auch wenn er arm ist; wer ihn aber nicht hat, der ist bettelarm, auch wenn er reich ist. Nur wer diesen Schatz hat, kann erkennen, wer in Wahrheit der Geber aller guten Gaben ist, und kann von daher auch erst richtig Erntedank feiern. Dieser Schatz ist un­vergänglich, denn er führt ins ewige Leben. Dieser Schatz ist kostbarer als aller irdische Besitz, denn Jesus hat ihn mit seinem eigenen Blut teuer bezahlt. Wer erkennt, wie wertvoll dieser Schatz ist, für den relativiert sich der Wert von irdischem Besitz. Einem Multi­millionär kann es ja eigentlich egal sein, ob man ihm 1000 Euro stiehlt oder 1000 Euro schenkt; das macht nicht viel aus. Ebenso kann es einem Besitzer von Gottes Schatz im Himmel egal sein, ob er nun eher ein Herr Reich oder ein Herr Arm oder ein Herr Median ist. Ihn ficht weder Reichtum noch Armut besonders an. Und weil das so ist, kann er auch fröhlich und reichlich abgeben von dem, was er hat. Sein Haupt­interesse ist auf Gott gerichtet, nicht auf Reichtum. Darum wird er auch gern den Rat beherzigen, den der Apostel Paulus dem Timotheus gegeben hat und der im Grunde genommen dasselbe sagt wie unser Predigt­text: „Wenn wir Nahrung und Kleider haben, so wollen wir uns daran genügen lassen“ (1. Tim. 6,8). Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2008.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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