Grund zum Klagen – Grund zum Hoffen

Predigt über Klagelieder 1,1‑9 zum 10. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Klagelieder werden auch heute noch gern gesungen. Überall hört man sie: Klagen über die politische und wirtschaftliche Lage, Klagen über gesundheit­liche und persönliche Probleme, Klagen über Kriminali­tät und den Verfall der Sitten. Leicht kann man davon angesteckt werden; leicht kann man dabei übersehen, wie gut es uns doch eigentlich geht, wieviel Grund zu Loben und Danken wir haben. Ganz anders sah es für das Volk der Juden aus, viele Male in ihrer Geschichte. Sie hatten wirklich Grund zum Klagen, als sie im Dritten Reich verfolgt wurden und viele von ihnen umkamen. Sie hatten auch Grund zum Klagen im Jahre 70 nach Christus, als die Römer in einer schreck­lichen Schlacht Jerusalem verwüsteten und die Bewohner mit unsäglicher Grausamkeit behandelten – der heutige 10. Sonntag nach Trinitatis ist dem Gedenken an dieses Ereignis gewidmet. Sie hatten auch Grund zum Klagen im Jahre 587 v. Chr., als Jerusalem schon einmal erobert und verwüstet worden war, nämlich durch die Babylonier unter Nebukad­nezar. Viele Juden wurden damals zur Zwangs­arbeit nach Babylonien ver­schleppt, nur wenige blieben in den Trümmern der zerstörten Stadt zurück und trauerten. Unter ihnen war der Prophet Jeremia, der das Unglück hatte kommen sehen und die Menschen zur Umkehr gerufen hatte – leider vergeblich. Nun sang er Klagelieder über das verlassene, kaputte Jerusalem und über die ver­schleppten Juden. Diese Klagelieder füllen ein ganzes Buch der Bibel. Wir haben eben als Predigttext das erste dieser Klagelieder gehört.

Jeremia beklagt die Stadt Jerusalem wie eine Frau. Dieses Bild war den Juden damals wohl vertraut, und dem Bibelleser ist es noch heute vertraut: Jerusalem, die „Tochter Zion“, gleicht einer Frau, in die Gott selbst sich verliebte und die er heiratete. Aber die Geschichte nahm eine un­glückliche Wendung: Gottes Volk wendete sich fremden Göttern zu. Im Bild gesprochen: Die Frau wurde untreu, beging Ehebruch, verließ ihren Mann und vergnügte sich mit allerlei Liebhabern. Das wurde ihr zum Verhängnis. Sie stolperte ins Unglück, da verließen sie ihre Liebhaber; die fremden Götter konnten Gottes Volk nicht helfen, den wahren Gott aber hatte Israel verlassen. Nun war Gottes Volk an einem Tiefpunkt angekommen, und Jeremia klagte: „Sie ist wie eine Witwe, die Fürstin unter den Völkern, und die eine Königin in den Ländern war, muss nun dienen… Es ist niemand unter allen ihren Liebhabern, der sie tröstet… Es ist von der Tochter Zion aller Schmuck dahin… Jerusalem hat sich versündigt; darum muss sie sein wie eine unreine Frau. Alle, die sie ehrten, verschmähen sie jetzt… Sie ist gräulich herunter­gestoßen und hat dazu niemand, der sie tröstet.“

Was fangen wir Christen des 21. Jahr­hunderts mit diesem Klagelied am Israel-Sonntag an? Wie stehen wir überhaupt zu Gottes altem Bundesvolk, zu den Juden? Uns allen ist wohl klar, dass jegliche Schaden­freude und jegliche Überheblich­keit fehl am Platz ist angesichts all des Unglücks und Leids, das die Juden seit den Zeiten Jeremias bis in in die jüngste Geschichte getroffen hat. Aber Gottes Wort im Neuen Testament bringt uns auf die Spur, wie wir damit umgehen sollen: Die Geschichte Israels, so heißt es da, ist uns zum Vorbild auf­geschrieben, und das bedeutet auch: zur Mahnung und Warnung. Wir sollen uns nicht einbilden, dass wir, die wir einst zu den Heiden zählten, irgendeinen Vorteil oder Vorzug bei Gott hätten gegenüber dem Volk, das er sich einst vor allen anderen Völkern zum Eigentum erwählt hat. Freilich: Auch in uns hat sich Gott verliebt, auch mit uns hat er sich verlobt; die Kirche ist die Braut Christi. So sollen wir uns nun davor hüten, dass wir unserem Bräutigam untreu werden und fremde Liebhaber suchen. Wir sollen nicht meinen, dass wir in dieser Welt irgendwo oder irgendwie größere Freude finden als bei unserem Heiland, oder größere Geborgen­heit, oder größere Sicherheit, oder größere Liebe. Ja, dazu mahnt uns Jeremias Klagelied und das tragische Schicksal der Juden nach der Zerstörung Jerusalems: dass wir nur ja unserm Herrn die Treue halten im Glauben, sein Wort suchen und seine Nähe in den Sakra­menten! Dass wir uns nur ja nach ihm richten mit unserem ganzen Lebens­wandel und nicht meinem, wir selbst wüssten besser, was für uns gut ist!

Gelingt uns das? Leben wir so? Sind wir dem Herrn wirklich treu? Haben wir nichts und niemanden lieber, ist uns nichts und niemand wichtiger?

Ach, wäre es doch so! Aber die Sünde lauert auch an unserer Herzenstür, und jedes Abweichen von Gottes Geboten ist bereits ein Seiten­sprung. Bilden wir uns nur nicht ein, wir wären besser als die Juden damals und hätten Gottes Liebe mehr verdient. Nein, vielmehr gilt: dass unsere ganze Welt nicht bereits in Trümmer zerfallen ist wie einst Jerusalem, das können wir nicht als Erfolg unserer Frömmigkeit verbuchen, sondern nur als unverdiente Gnade Gottes ansehen. Die Gnade, nach der sich auch Israel damals sehnte. Die Gnade, nach der die gequälten Juden in vielen Jahr­hunderten geschrien haben, so wie es auch in Jeremias Klagelied heißt: „Ach Herr, sieh an mein Elend; denn der Feind trium­phiert!“

Hört Gott diesen Hilferuf? Hat er ihn damals bei den Juden erhört? Die babylo­nische Gefangen­schaft nahm zwar nach sieben Jahrzehnten ein Ende, die Leiden des jüdischen Volkes freilich hörten nicht auf, wie wir schon gesehen haben; sie gingen weiter über die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 durch die Römer bis hin zu den Pogromen des 20. Jahr­hunderts. Und doch hat Gott das Elend seines Volkes angesehen und sieht aller Sünder Elend an. Er ist selbst zu uns ins Elend herab­gestiegen in Jesus Christus, seinem lieben Sohn. Er hat am Kreuz alle Schuld auf sich genommen von Juden und Heiden: allen Götzen­dienst, allen Ehebruch, alle Treu­losigkeit. Er hat nicht aufgehört zu lieben. Es ist so, wie wenn der betrogene und verlassene Ehemann seiner Frau nachreist. Er findet sie traurig und einsam in einer schäbigen Absteige, ganz am Ende, von allen Liebhabern im Stich gelassen. Und er hat sie immer noch lieb und wirbt um sie wie am Anfang: Komm, sei wieder meine Frau, kehre zurück zu mir, da sollst du es für immer gut haben!

Ja, liebe Gemeinde, das gilt für dich und für mich und für alle, die auf den Irrwegen der Sünde ins Elend gekommen sind; das gilt für Juden und Heiden, für alle Menschen gleicher­maßen. Und was bedeutet das nun speziell für das Volk der Juden in der heutigen Zeit? Manche Leute meinen ja, die christliche Mission gelte nicht den Juden, die haben ja sowieso schon Gott. Was aber ist Mission? Mission ist nichts anderes, als alle Menschen wissen zu lassen, dass Gottes bedingungs­lose Liebe in Jesus Christus zu ihnen kommt. Mission ist Gottes Antwort auf den Hilferuf: „Ach Herr, sieh an mein Elend, denn der Feind trium­phiert.“ Es ist der Hilferuf der Juden und zugleich auch unser Hilferuf; alle aber finden eine herrliche Antwort auf diesen Hilferuf im Evangelium von Jesus Christus. Wir selbst haben mit dieser Fleisch gewordenen Antwort großes Glück und große Freude gefunden und dazu das ewige Leben – sollten wir diese Antwort darum irgend­jemandem vor­enthalten, gleich ob Jude oder Heide? Das kann doch nicht sein! Ob wir es nun „Juden­mission“ nennen oder „Zeugnis unter den Juden“, das ist einerlei, wichtig ist, dass auch Gottes altes Bundesvolk den einen Weg findet, der aus dem Elend in die ewige Seligkeit führt, und dieser eine Weg heißt Jesus Christus.

Lasst uns treu auf diesem Weg bleiben, nicht abweichen zur Rechten oder zur Linken, und andere auf diesen Weg einladen! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2008.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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