Not, Hilferuf, Rettung, Dank

Predigt über Psalm 107,4-9 zum 7. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus,

der 107. Psalm ist ein Dankpsalm. Er beginnt mit Worten, die uns als Tischgebet wohl vertraut sind: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.“ In seinem Hauptteil enthält dieser Psalm vier Beispiele von Not­situationen, in denen Gott geholfen hat: erstens verirrt in der Wüste, zweitens gefangen, drittens von Schuld­gefühlen gequält, viertens schiff­brüchig. Jede dieser vier Not­situationen wird nach demselben Schema beschrieben in den Schritten Not – Hilferuf – Rettung – Dank. Der Dank ist dabei stets der Zielpunkt; es handelt sich wie gesagt um einen Dankpsalm. Unser Predigttext redet von der ersten der vier Not­situationen: verirrt in der Wüste. Lasst uns daran die genannten Schritte nach­vollziehen: Not – Hilferuf – Rettung – Dank.

Da wird also zunächst die Not ge­schildert: Menschen haben sich in der Wüste verirrt. Sie sehen keine Wegspur mehr, die sie zu irgendeiner Siedlung führen könnte. Sie haben kein Dach über dem Kopf, müssen im Freien über­nachten. Hunger plagt sie und Durst, vor allem aber Todesangst. Ihre „Seelen ver­schmachten“, heißt es da; sie sind im Begriff, zu verhungern und zu verdursten.

So etwas gibt es ja tatsächlich heute noch: dass Touristen sich beim Abenteuer­urlaub in der Wüste verirren, oder dass ihr Gelände­wagen stecken bleibt, und dass sie dann umherirren, keine Menschen­seele finden, Hunger und Durst leiden. Oder ich denke an den Piloten und Schrift­steller Saint-Exupery, der mit seinem Flugzeug eine Bruch­landung in der Sahara hatte und die Not der folgenden Wüstentage später sehr anschaulich auf­geschrieben hat. Das sind allerdings Extrem­situationen, und ich nehme mal an, dass keiner von uns bisher so etwas am eigenen Leibe erfahren hat. Trotzdem haben auch wir Wüsten­erfahrungen – im über­tragenen Sinn. Wir fühlen uns manchmal wie einer, der in der Wüste umherirrt, keinen ver­nünftigen Weg mehr findet und am Ende vielleicht feststellen muss, dass er lange Zeit nur im Kreis gelaufen ist. So geht uns das bei vielen Ent­scheidungen im Leben: Wir sehen nicht klar, andere Menschen können uns auch nicht helfen oder geben uns wider­sprüchliche Ratschläge, wir entscheiden halbherzig mal so und mal so und merken am Ende, dass wir immer noch in der Wüste der Orien­tierungs­losigkeit sind. Wir fühlen uns auch manchmal wie einer, der in der Wüste Heimweh hat: Da ist kein Ort, wo man wirklich „bleiben kann“, wie es im Bibelwort heißt, keine Heimat, keine Stätte, wo man sich vollkommen zu Hause fühlt. Unmittel­baren Hunger und Durst kennen wir Gott sei Dank kaum; das war vor 50 bis 60 Jahren noch anders in Deutsch­land. Aber von Armut wird auch heutzutage wieder viel geredet. Damit ist meistens der Hunger gemeint nach den vielen schönen Dingen, die uns dauernd vor Augen stehen und angeboten werden, aber die wir uns nicht leisten können. Oder die Erfahrung, dass das gleich gebliebene Einkommen bei steigenden Preisen nicht mehr so gut ausreicht wie früher. Oder der Hunger der Seele, der Hunger nach Liebe und Zuwendung, der Hunger nach Verständnis und Auf­munterung, oder einfach der Hunger nach gutem, zufriedenen Leben. „Die irre gingen in der Wüste, auf ungebahntem Wege, und fanden keine Stadt, in der sie wohnen konnten, die hungrig und durstig waren und deren Seele ver­schmachtete, die riefen dann zum Herrn in ihrer Not“, so heißt es in unserem Bibelwort.

Und damit sind wir beim zweiten Schritt, beim Hilferuf. Auf die Not folgt der Hilferuf. Jedenfalls sollte das so sein: der Hilferuf zu Gott, der Aufschrei, das Gebet. Wer in der Not um Hilfe schreit, zeigt damit, dass er noch Hoffnung hat, dass er noch nicht aufgegeben hat. Wer in der Not betet, der zeigt damit, dass sein Glaube noch nicht verloschen ist, dass er sich von Gott noch Hilfe erhofft, auch wenn das unter viel Anfechtung und Zweifel geschieht. Das sollte sich jeder Christ für Zeiten der Not und Anfechtung merken: Es ist gar nicht so wichtig, was du dann über Gott denkst oder was du von ihm weißt; wichtig ist, dass du ihm deine Not ins Gesicht schreist, dass du mit ihm im Gespräch bleibst, dass du die Verbindung nicht abreißen lässt. Es kommt auch gar nicht darauf an, wie du deinen Hilferuf formulierst. Egal ob es deine eigenen per­sönlichen Alltags­worte sind oder ob du deine Not mit Worten der Psalmen vor Gott bringst, Hauptsache du wendest dich an ihn und es ist ehrlich gemeint. Das Gebet ist kein Zauber­spruch, wo bestimmte Formu­lierungen bestimmte Dinge bewirken, sondern es ist ein Gespräch mit Gott. Wie jede andere intakte Beziehung lebt auch die Beziehung zu Gott vom Gespräch, darum bedeutet glauben beten und beten glauben. Wir können das tun in der Zuversicht, dass Gott zuhört und hilft. „Sie riefen zum Herrn in ihrer Not, und er erettete sie aus ihren Ängsten und führte sie den richtigen Weg, dass sie kamen zur Stadt, in der sie wohnen konnten“, so heißt es in unserem Bibelwort.

Damit sind wir beim dritten Schritt, bei der Rettung. Auf Not und Hilferuf folgt Rettung. Der Pilot Saint-Exupery, der in der Wüste abgestürzt war, ist nach mehreren Tagen gerettet worden. Die Rettung kam durch Beduinen, die dem halb Bewusst­losen zu trinken und zu essen gaben und ihn dann auf dem richtigen Weg zur nächsten mensch­lichen Siedlung brachten. Viele in der Wüste Verirrte sind auf ähnliche Weise gerettet worden, und die meisten von ihnen haben ihr Leben von da an in einem anderen Licht gesehen, haben es viel mehr wert geschätzt.

Wenn du das Umherirren in der Wüste doch wenigstens im über­tragenen Sinne kennst, ebenso wie Hunger und Durst, und wenn du dich in dieser Not an Gott gewandt hast mit einem Hilferuf, dann hast du gewiss auch schon die Erfahrung der Rettung gemacht, vielleicht schon viele Male. Mir selbst ist es jedenfalls schon oft so ergangen. Man muss sich nur erinnern, man muss nur zurück­denken. Ich weiß noch, wie ich kurz nach dem Abitur unsicher wurde, auf welchen Beruf ich denn studieren sollte. Wie ich dann in dieser Wüste der Unsicher­heit Gott um Hilfe gebeten habe, und wie er mir dann geholfen hat durch den Ratschlag meines Pastors, Theologie zu studieren. Ich kenne Familien, die in wirtschaft­lich schweren Zeiten nicht wussten, wie sie mit ihrem geringen Einkommen über die Runden kommen sollten. Aber sie haben Gott um Hilfe gebeten und ihm vertraut, und der hat ihnen hindurch­geholfen. Manchmal lässt die Hilfe eine Zeit lang auf sich warten, aber immer dürfen wir darauf vertrauen, dass Gott unser Gebet nicht zurück­weist, sondern dass er hilft.

Nun müssen wir freilich einen Unterschied machen zwischen Gottes vorläufiger Hilfe und Gottes endgültiger Hilfe. Auch die Bibel macht diesen Unter­schied; auch Jesus hat ihn deutlich heraus­gestellt. Im Anschluss an das Speisungs­wunder, von dem wir in der heutigen Evangeliums­lesung hörten, hat Jesus gesagt: „Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit“ (Joh. 6,49‑51). Das Manna in der Wüste war Gottes vorläufige Hilfe für Israel; sie sind ja dann später doch alle gestorben. Auch die Rettung des Piloten Saint-Exupery in der Wüste war eine vorläufige; er ist bei einem späteren Absturz dann ums Leben gekommen; erst kürzlich hat man die Absturz­stelle gefunden. Das lässt sich ver­allgemei­nern: Wenn Gott den Magen mit Brot füllt, dann wird der Magen wieder hungrig. Wenn Gott mit Wasser den Durst stillt, dann ist er nicht für immer gelöscht. Wer in der Wüste der Orien­tierungs­losigkeit einen Weg gewiesen bekommt in dieser Welt, der weiß immer noch nicht, wie es bis an sein Lebensende weitergeht. Wem aus Armut und Einsamkeit geholfen wird, der hat keine Garantie, dass er nicht wieder einsam und arm werden kann. Und wer aus Lebens­gefahr gerettet wurde, muss dann doch irgendwann wirklich sterben. In allen Notlagen dieser Welt ist Gottes Hilfe immer nur eine vorläufige. Sie weist aber hin auf Gottes endgültige Hilfe: die Hilfe durch das Lebensbrot Jesus Christus (wer dieses Lebensbrot hat, den wird in Ewigkeit nicht hungern), und die Hilfe durch das lebendige Wasser des Heiligen Geistes (wer dieses Wasser trinkt, den wird in Ewigkeit nicht dürsten), und die Hilfe der Wegweisung durch Gottes Wort (wer diesen Wegweiser hat, der ist auf dem richtigen Weg zum ewigen Leben, zur wirklichen und endgültigen Heimat). Gottes endgültige Hilfe ist die Erlösung durch Jesus Christus, die Vergebung der Sünden, die Wieder­geburt durch Wasser und Geist. Es ist die Hilfe, die uns im Evangelium nicht nur ver­sprochen, sondern zugleich auch zugeeignet wird. „Gott erettete sie aus ihren Ängsten und führte sie den richtigen Weg, dass sie kamen zur Stadt, in der sie wohnen konnten. Sie sollen dem Herrn danken für seine Güte und für seine Wunder, die er an den Menschen­kindern tut, dass er sättigt die durstige Seele und die Hungrigen füllt mit Gutem“, so heißt es in unserem Bibelwort.

Damit sind wir beim vierten Schritt, beim Dank. Auf Not, Hilferuf und Rettung folgt der Dank. Vielmehr: Er soll folgen. Es heißt: „Sie sollen dem Herrn danken…“ Leider gibt es viele undankbare Menschen. Sie danken Gott nicht für seine vielen Erweise vorläufiger Hilfe und dann auch erst recht nicht für seine endgültige Hilfe durch Jesus Christus. Das ist nicht erst heute so, das war schon zu Jesu Zeiten so: Von zehn Aus­sätzigen, die er geheilt hatte, hielt es nur einer für nötig, Jesus zu danken (Lukas 17,11‑19). Dabei sind Lob und Dank doch Zielpunkt aller Not und aller Hilfe, ja, da liegt eigentlich unser Lebenssin: dass wir etwas sind zum Lobe Gottes. Aber wie oft bleiben wir beim dritten Schritt stehen und vergessen den vierten, vergessen das Danken! Ich sage bewusst „wir“, denn ich merke das immer wieder auch bei mir selbst, wie undankbar ich bin. So kommt dann statt des vierten Schritts der Dankbarkeit oft ein neuer erster Schritt, eine neue Not, die Not der Un­dankbarkeit. Denn Un­dankbarkeit verbittert, Un­dankbarkeit tötet die Freude, Un­dankbarkeit entfremdet vom Mitmenschen und von Gott, Un­dankbarkeit macht einsam, Un­dankbarkeit führt also wiederum in die Wüste.

Liebe Brüder und Schwestern, vergessen wir also das Danken nicht! Der 107. Psalm ist ein Dankpsalm; lassen wir uns von ihm anstecken! Und beten wir nicht nur zu den Mahlzeiten, und beten wir nicht nur mit dem Mund: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich!“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2008.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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