Der herausgezogene und herausziehende Hirte

Predigt über Hebräer 13,20‑21 zum Sonntag Miserikordias Domini

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn eine Schafherde übers Gebirge getrieben wird zu neuen Weide­plätzen, und wenn dann ein Schaf vom Weg abkommt und in eine Felsspalte rutscht, dann kann es sich mit eigener Kraft nicht befreien. Da kommt dann der Hirte mit seinem legendären Krummstab, legt den Bogen des Stabes um den Hals oder um die Brust des Tieres und zieht es heraus. Das Schaf ist dann befreit und weiß fortan den Stab des Hirten zu schätzen. „Dein Stecken und Stab trösten mich“, heißt es daher im 23.‑Psalm.

Wenn ein Mensch in der Tinte steckt, dann kommt er da ebenfalls oft nicht mit eigener Kraft heraus; er braucht jemanden, der ihm heraus­hilft. Wer im Sumpf versinkt, kann sich nicht an den eigenen Haaren heraus­ziehen. Wem das Wasser bis zum Halse steht, den muss ein anderer befreien. Wer in der Schulden­falle sitzt, der braucht fremdes Kapital, um wieder auf die Beine zu kommen. Wer im Alkohol ertrinkt, kommt mit bloßer Willens­kraft da nicht heraus. Wer in Sünde verstrickt ist, braucht Gottes Hilfe, um frei zu kommen, sonst verheddert er sich noch mehr. Und wer im Tod versinkt, der ist darauf angewiesen, dass Gott ihn zu neuem Leben auferweckt, sonst wird er nicht wieder lebendig.

Das Besondere beim Evangelium ist nun, dass der wahre Mensch und Gott Jesus Christus beides ist, ein Herausgezogener und zugleich ein Heraus­ziehender. In unserem Textwort heißt es: „Der Gott des Friedens hat den großen Hirten der Schafe, unsern Herrn Jesus, von den Toten herauf­geführt durch das Blut des ewigen Bundes“. Das Gotteslamm, dessen Sündopfer­blut für uns vergossen wurde, ist vom himmlischen Vater herauf­geführt worden von den Toten, auferweckt, heraus­gezogen aus den Untiefen der Gott­verlassen­heit, in die es sich stell­vertretend für uns begeben hat. Er, der wie ein Lamm zur Schlacht­bank ging, ist dadurch unser guter Hirte geworden, der uns aus der Sünden­verstrickung und aus dem Tod heraufholt zu neuem, ewigen Leben. Ja, das ist unser Herr: Menschen­sohn und Gottessohn, Lamm und Hirte, Opfer und Retter, Knecht und Herr, gestorben und auf­erstanden, heraus­gezogen und heraus­ziehend. Das ist das Wunder des Evan­geliums, das Wunder von Gottes neuem Bund für alle Menschen der Welt.

Ewiger Bund“ wird dieser neue Bund hier in unserem Predigttext genannt. Es ist der Gnadenbund, den Gott schon von Ewigkeit her für alle Menschen beschlossen hat. Es ist der Bund, von dessen Verheißung das Alte Testament handelt und von dessen Erfüllung das Neue Testament. Von diesem ewigen neuen Bund müssen wir Gottes zeitlichen alten Bund unter­scheiden, nämlich seinen Gesetzes­bund mit dem Volk Israel. Der Hebräer­brief war ur­sprünglich an solche Christen gerichtet, die mit dem alten Bund und dem Alten Testament gut vertraut waren und die durch unseren Predigttext an ein sehr ähnliches Wort im Buch des Propheten Jesaja erinnert wurden. Da heißt es: „Da gedachte sein Volk wieder an die vorigen Zeiten, an Mose: Wo ist denn nun, der aus dem Wasser zog den Hirten seiner Herde?“ (Jes. 63,11). Mose war der Mittler des alten Bundes. Wie Jesus, der Mittler des neuen Bundes, war er sowohl ein Heraus­gezogener als auch ein Heraus­ziehender. Wir erinnern uns an die Geschichte, wie Mose ein Baby war und wie ihn seine Mutter in einem wasserdicht gemachten Körbchen auf dem Nil aussetzte, um ihn vor Mördern zu schützen. Wir erinnern uns daran, wie Gott dann wunderbar fügte, dass eine ägyptische Prinzessin ihn fand und versorgte. „Mose“ nannte sie den Jungen, das bedeutet „Heraus­gezogener“. Gott war es eigentlich, der ihn aus der Todesgefahr und aus dem Wasser des Nils heraus­gezogen hatte. Und Gott hatte mit diesem Jungen noch viel vor: Ein Menschen­hirt sollte er werden. Er bereitete ihn darauf vor, indem er ihn ein Drittel seines Lebens den Beruf eines Viehhirten ausüben ließ. Danach erst machte er ihn zum Hirten seines Volkes Israel, zum Befreier, zum „Heraus­zieher“ aus der ägyptischen Sklaverei. Das war der Anfang des alten und zeitlichen Bundes von Gott mit seinem Volk, der Gesetzes­bund am Sinai, der den Gehorsamen ein äußerlich gutes und friedliches Leben im verheißenen Land versprach.

Ganz parallel dazu heißt es nun im Hinblick auf den neuen Bund: „Gott hat den großen Hirten der Herde (nun nicht Mose, sondern Christus) herauf­geführt von den Toten (nicht aus dem Wasser des Nils) durch das Blut des ewigen Bundes (nicht durch das Blut der Opfertiere, das den alten Bund be­siegelte).“ Aber mit seinem alten Bund und mit Mose hat Gott verheißungs­mäßig den neuen und ewigen Bund vor­bereitet, der durch Tod und Auf­erstehung unsers Herrn Jesus Christus in Kraft getreten ist. Er hat alle Menschen vom ewigen Tod befreit, hat sie aus der Sklaverei der Sünde und des Teufels heraus­gezogen. So ist er zu unserem Herrn und Hirten geworden. Und so weidet er noch heute seine Herde mit Wort und Sakrament durch Hirten, die er sich selbst erwählt, die er sich beruft und herauszieht aus seinem Christen­volk, dass sie das Pastorenamt ausüben.

Aber wir können den Bogen noch weiter spannen. Denn Heraus­gezogene sind wir ja alle durch ihn. Gott hat ja uns alle aus dem Wasser der Taufe heraus­gezogen als wieder­geborene Menschen, als neue Kreaturen. Er hat uns damit befreit und zugleich befähigt, selber Heraus­ziehende zu werden für andere. Im weitesten Sinne kann und soll also jeder Christ Hirte sein, nämlich ein Mensch, der für andere da ist und der ihnen aus Not heraus­hilft. Darum heißt es weiter in unserem Predigttext von dem „großen Hirten der Schafe“ Jesus Christus: „Der mache euch tüchtig in allem Guten, zu tun seinen Willen, und schaffe in uns, was ihm gefällt, durch Jesus Christus, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Was aber anderes ist das Gute, das ihm gefällt und das seinem Willen entspricht, als dass wir nach seinem Vorbild Liebe üben und anderen Menschen zu Helfern und Rettern werden – je nach unseren Gaben und Möglich­keiten, aber auch je nach den Bedürf­nissen und Notlagen der Menschen um uns herum?

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, wir erkennen nun, dass im Bild des Heraus­gezogen-Werdens und Heraus­ziehens das ganze Wesens unseres Christen­lebens offenbar wird. Gott zog Mose aus dem Wasser des Nils und aus der Todes­gefahr, damit er sein altes Bundesvolk Israel aus der Knecht­schaft heraus­führen und ihnen ein guter Hirte sein konnte. Der himmlische Vater zog seinen ein­geborenen Sohn aus dem Tod heraus und machte ihn zu unserem großen guten Hirten, der nun uns aus Sünde und Tod herauszieht und ewig weidet. Jeden von uns hat er aus dem Wasser der Taufe in ein neues Leben gezogen, in dem wir gerecht, heilig und liebend leben sollen dadurch, dass wir anderen heraus­helfen aus allerlei Not und Elend an Leib und Seele – sei es als berufene Diener im Hirtenamt der Kirche oder sei es als einfache Christen, die dem Vorbild des großen guten Hirten folgen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2008.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum