Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Gottes Wort ist wertvoll nicht nur wegen seines Inhalts, sondern auch wegen seiner Form. Ein besonders schönes Beispiel ist der 119. Psalm, der längste Psalm, und mit 176 Versen zugleich das längste Kapitel der Bibel. Dieser Psalm besteht aus 22 Strophen zu je 8 Versen – 22 mal 8 sind 176. Der hebräische Anfangsbuchstabe von jedem Vers ist in jeder Strophe gleich. Weil das hebräische Alphabet 22 Buchstaben hat (von Alef bis Tau), darum sind es 22 Strophen, für jeden Buchstaben eine. Der 119. Psalm wird daher auch „das güldene ABC“ genannt; so können wir es in der Lutherbibel als Überschrift nachlesen.
Unser Predigttext ist die 12. Strophe des Psalms. Jeder hebräische Vers dieser Strophe fängt mit dem Buchstaben Lamed an, das entspricht unserem L. In der deutschen Übersetzung ist das freilich nicht erkennbar. Aber etwas anderes kann man in der deutschen Übersetzung erkennen von der Art und Weise, wie hebräische Lieder und Gedichte kunstvoll geformt sind: Es werden dieselben Inhalte mit verschiedenen Worten mehrmals ausgedrückt. Das mag uns vielleicht befremden oder sogar abstoßen, weil wir ja heute sowieso in einem Überfluss von Worten, Texten und Informationen leben; da erschlägt uns die wiederholende Art der Psalmen fast, oder sie sie könnte uns langweilen. In der Zeit, als die Psalmen entstanden sind, konnten aber die meisten Menschen überhaupt nicht lesen; sie waren aufs Hören angewiesen. Und da war die mehrfache Wiederholung gut und hilfreich: Wer es beim ersten Mal nicht verstanden hatte, konnte es beim zweiten Mal verstehen. Auf diese Weise prägten sich die Inhalte zugleich gut ins Gedächtnis ein – man konnte es ja nicht ohne Schwierigkeiten nachlesen. Das will Gott mit seinem Wort erreichen, und so sollen wir noch heute damit umgehen: dass wir es gerne hören und lernen, dass wir es reichlich unter uns wohnen lassen – immer wieder, unser Leben lang. Gottes Wort soll sich tief in unser Gedächtnis eingraben, damit wir uns stets daran erinnern, damit wir stets diesen Trost und Halt bei uns haben, auch wenn gerade keine Bibel zur Hand ist.
Was ist es nun aber, das in dieser Strophe des 119. Psalms mehrmals wiederholt wird? Es sind Aussagen über Gottes Wort. Die Bibel redet hier also gewissermaßen in eigener Sache. Nach Art der hebräischen Dichtkunst wird Gottes Wort hier mit mehreren verschiedenen Begriffen bezeichnet: „Wort“, „Wahrheit“, ‚“Ordnungen“, „Gesetz“, „Befehle“, „Mahnungen“ und „Gebot“. Diese und weitere Begriffe tauchen im ganzen Psalm immer wieder auf und erwecken den Eindruck, dass er ein ziemlich gesetzlicher Text ist; dass es hier also um Gottes Anweisungen für unseren Lebensstil geht. Damit würden wir die Begriffe allerdings zu eng fassen – es geht hier eigentlich ganz allgemein um Gottes Wort und Wahrheit. Wenn wir genau hinschauen, können wir das erkennen. Da heißt es zum Beispiel: „Du hast die Erde fest gegründet und sie bleibt stehen. Sie steht noch heute nach deinen Ordnungen, denn dir muss alles dienen.“ Mit diesen „Ordnungen“ sind also nicht Befehle und Gebote gemeint, die Gott uns Menschen aufgetragen hat, sondern es ist sein Schöpfungswort gemeint. Er befahl dem Licht zu scheinen, und es schien; er gebot den Pflanzen, Samen zu bringen, und sie brachten Samen. Gottes Schöpfungswort, Gottes Verheißungswort, Gottes Trostwort, Gottes Mahnwort – all das ist Thema dieses Abschnitts und des ganzen 119. Psalms.
Diese Strophe betont besonders die Beständigkeit von Gottes Wort. „Dein Wort bleibt ewig“, heißt es da, und: „Ich habe gesehen, dass alles ein Ende hat, aber dein Gebot bleibt bestehen.“ Zur Veranschaulichung wird auf die Naturgesetze hingewiesen, die Gott durch sein Wort bei der Schöpfung in Kraft gesetzt hat und nach denen die Welt von Anbeginn unverändert funktioniert. Der Mond und die Planeten zum Beispiel wandern auf unveränderlichen Bahnen am Himmel entlang, wie Gott es bei der Schöpfung durch sein Wort geordnet hat. Die Welt „steht noch heute nach deinen Ordnungen; denn es muss dir alles dienen.“ Gottes Wort ist so beständig wie Gott selbst; Gott sagt nicht heute Hü und morgen Hott; Gott steht zu dem, was er sagt, und lässt es genauso in Erfüllung gehen. Die Form des Psalms unterstreicht diese Aussage: Die vielen Wiederholungen drücken Dauer und Beständigkeit aus.
Das Psalmwort betont die Beständigkeit von Gottes Wort auf dem Hintergrund menschlicher Vergänglichkeit, ja, geradezu Flüchtigkeit. „Wie schnell doch die Zeit vergeht!“ – das ist eine Erfahrung, die der Mensch um so stärker empfindet, je älter er ist. Da gibt es Dinge, die sich täglich ändern, wie zum Beispiel das Wetter oder die Börsenkurse. Da erfahren wir früher oder später die Zebrechlichkeit unserer Gesundheit – wir können uns nicht unbegrenzt auf unser Herz und unsere Lunge verlassen, auch nicht auf die Schärfe unserer Augen und unsere Muskelkraft, schon gar nicht auf die Belastbarkeit unseres Rückens und die Haltbarkeit unserer Zähne. Auch können wir die schönen Zeiten im Leben nicht festhalten oder Menschen, die uns viel bedeuten; einer nach dem anderen verlässt uns. Im Volk, zu dem wir gehören, verändern sich Lebensgewohnheiten und Gesellschaftsordnungen. So gehören heute nicht mehr Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Gehorsam zu den höchsten Tugenden, sondern Teamfähigkeit, Toleranz und Selbstdarstellung. Und wenn man die christliche Kirche mal von ihrer menschlichen Seite betrachtet, so können wir auch da tiefgreifende Veränderungen beobachten; das fällt mir gerade jetzt auf, wo ich mich für das bevorstehende Gemeindejubiläum mit der Geschichte unserer altlutherischen Gemeinde in Fürstenwalde beschäftige. Es ist zum Beispiel hochinteressant zu vergleichen, was für ein Verhältnis unsere Gemeinde mit ihrem jeweiligen Pastor zur gerade herrschenden Obrigkeit hatte: Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein gespanntes Verhältnis zum Preußenkönig Friedrich Wilhelm III., der die Altlutheraner verfolgen ließ; um die Jahrhundertwende ein ungetrübt loyales Verhältnis zum Kaiser; nach dem 1. Weltkrieg ein verwirrtes, verunsichertes Verhältnis; zu Anfang des Dritten Reiches die Illusion, Hitler werde die guten alten Zeiten des Vorkriegs-Nationalstaats wiederherstellen; dann das schreckliche Zerbrechen dieser Illusion und eine große Hilflosigkeit, damit umzugehen; dann der völlige Zusammenbruch am Ende des 2. Weltkriegs; dann das in verschiedenen Graden gespannte und wieder entspannte Verhältnis zur sozialistischen Regierung; dann die deutsche Wiedervereinigung mit ihren großen Hoffnungen, von denen sich wiederum viele nicht erfüllt haben… Ja, so leben und leiden wir in jeder Beziehung an Unbeständigkeit, Wankelmütigkeit, Vergänglichkeit, auch unsere Gemeindegeschichte macht das deutlich. Aber wir dürfen uns mit dem Psalmwort trösten: „Wenn dein Gesetz nicht mein Trost gewesen wäre, so wäre ich vergangen in meinem Elend… Ich habe gesehen, dass alles ein Ende hat, aber dein Gebot bleibt bestehen.“
Gottes Wort in seiner Beständigkeit ist ein Trost, ein Halt, ein Fels, ein fest verankertes Geländer, an dem wir uns festhalten können, wenn wir unsicheren Fußes durch die Zeiten gehen. Weil wir uns an Gottes Wort festhalten, werden wir gewiss: Gott hat es alles in der Hand; er hat es alles geschaffen und geordnet; er führt auch alles zu dem Ende, das ihm gefällt. Und das Schönste: Gottes Wort ist viel mehr als ein Haltegriff, ein Fels oder ein fest verankertes Geländer – es ist etwas Lebendiges, es ist die väterliche Hand, die die Hand des Kindes ergreift, die Trost und Sicherheit gibt. Gottes Wort ist Fleisch geworden in seinem Sohn Jesus Christus. Mit Jesus haben wir Gottes Wort lebendig und leibhaftig bei uns. In Jesus erfahren wir, was Gott uns aus dem tiefsten Grunde seines Herzens zu sagen hat: Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich lieb, ich schenke dir ewiges Leben – dir, dem wankelmütigen, unbeständigen, hin- und hergerissenen, vergänglichen Menschen! Denn Jesus selbst ist ewig wie Gottes Wort; er lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“ (Hebr. 13,8) – so heißt es in der Heiligen Schrift, und so stellen wir es auch ganz bewusst als Motto über die kleine und arme Geschichte unserer Gemeinde, die wir in diesem Jahr besonders bedenken wollen.
Gottes Wort hat ewig Bestand. Die Herrschaft unsers Herrn Jesus Christus hat ewig Bestand. Gottes Wort und die Herrschaft Jesu haben nicht nur Bestand, sondern sie geben uns auch Beständigkeit, verleihen uns das ewige Leben. Gottes Wort und die Herrschaft Jesu überwinden unsere Unbeständigkeit, unsere Wankelmütigkeit, unsere Vergänglichkeit. In der Taufe hat Gott uns durch seinen Sohn zugesagt: Du bist mein geliebtes Kind, du sollst ewig leben. Dieses Versprechen kann ihn nicht gereuen, es hat ewig Bestand, denn es gehört zu seinem ewigen Wort. Und so gewinnen wir armen, vergänglichen Christen in einer menschlich gesehen armen und abnehmenden Gemeinde Anteil an Gottes Unvergänglichkeit. Gottes Wort macht, dass wir ewig leben. Gottes Wort macht, dass die Pforten der Hölle seine Kirche nicht überwinden können, wie Jesus gesagt hat. Und so beten wir getrost mit unserem Psalmwort: „Die Gottlosen lauern mir auf, dass sie mich umbringen; ich aber merke auf deine Mahnungen.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |