Kurzes Leben, schweres Leid

Predigt über Hiob 14,1‑6 zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn ein Mensch Fieber oder Schmerzen hat, dann nimmt er die Welt anders wahr als ein Gesunder. Manches, so kommt es ihm vor, nimmt er klarer und schärfer wahr. Aber er findet nicht den großen Sinn­zusammen­hang, der es ihm sonst ermöglicht, sein Leben und seinen Alltag normal zu bewältigen.

Genauso war es bei Hiob. Hiob war nicht nur schwer krank, er war auch in anderer Hinsicht schwer geplagt: An einem einzigen Unglückstag hatte er seine Kinder und seinen Reichtum verloren. Verloren hatte er damit auch den großen Sinn­zusammen­hang für sein Leben: Gott, den er sonst stets als Quelle des Segens gepriesen hatte, war ihm un­verständ­lich geworden. Er verstand nicht, warum Gott gerade ihm, dem frommen Hiob, soviel Leid zumutete. Freunde besuchten ihn und wollten ihm erklären, dass er sein Leid gewiss mit irgend­welchen verborgenen Sünden selbst verschuldet hätte, aber Hiob wehrt diese Worte entschieden ab. Er redet und streitet mit seinen Freunden; davon handelt der größte Teil des Hiob-Buches. Aus seinen Antworten an die Freunde werden immer wieder Selbst­gespräche, und aus den Selbst­gesprächen werden Gespräche mit Gott. So ist es auch in dem Abschnitt, den wir eben als Predigttext gehört haben.

Wenn ein Mensch unter Schmerz und Trauer leidet, dann nimmt er die Welt anders wahr als andere – manches klarer und schärfer. So steht Hiob die menschliche Vergänglich­keit klar vor Augen, das kurze Menschen­leben: „Ein Mensch ist wie eine Blume“, sagt er. Eine Blume wächst aus dem Erdboden, eine Knospe entsteht, sie entfaltet sich zur vollen Schönheit der Blüte; dann verwelkt sie aber bald wieder, wird un­ansehnlich, vergeht schließlich und wird zu Erde. „Ein Mensch ist wie ein Schatten“, sagt Hiob ebenfalls, wie der Schatten eines Baumes im Tageslauf. Der Schatten wandert vom Morgen bis zum Abend im Halbkreis um den Baum herum; nie bleibt er am selben Fleck. Wer in der heißen Sonne Zuflucht unter dem Schatten eines Baumes sucht, kann da nicht lange bleiben; der Schatten wandert weiter und liefert den Schatten­sucher wieder der Sonne aus. „Der Mensch flieht wie ein Schatten und bleibt nicht“, sagt Hiob. Un­ansehnlich wie eine verwelkte Blume, un­erträglich wie der Sonnen­platz, von dem der Schatten geflohen ist, so empfindet Hiob sein Leben: Es ist kurz, un­ansehnlich und un­erträglich.

Hiob weiß, dass die Vergänglich­keit von Gott kommt als Strafe für die Sünde. Hiob weiß auch, dass kein Unglück auf der Welt geschieht, das nicht von Gott kommt; er weiß: Gott ist es, der mir dieses unsäglich große Leid zumutet. Aber Hiob kriegt diese Erkenntnis nicht zusammen mit seinem Vertrauen in einen lieben Gott. In seinem Schmerz und in seiner Qual scheint ihm Gott grausam und un­barmhermzig zu sein, und das schleudert er wie eine Anklage Gott ins Gesicht. Ja, aus seiner Klage wird eine Anklage: „Gott, du tust deine Augen über einen solchen (Menschen) auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.“ Wir könnten das im heutigen Umgangs­deutsch so übersetzen: „Gott, wenn sowieso alle Menschen nur ein kurzes Leben haben wegen der Sünde, warum hat du mich dann noch besonders auf dem Kieker? Warum brummst du mir noch eine Extra-Strafe auf? Schließlich kann ich doch nichts dafür, dass ich, wie jeder andere auch, als Sünder zur Welt gekommen bin!“ Hiob weiß sehr wohl um die Erbsünde, denn er sagt: „Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer!“

Dem Hiob geht es so schlecht, dass er am liebsten sterben möchte. Er freut sich auf den Tod, wie sich ein Schwerarbeiter auf den Feierabend freut. Freilich freut er sich nicht so darauf, wie wir Christen uns freuen: Hiob wäre froh, wenn etwas aufhört; wir Christen freuen uns darauf, dass dann etwas Neues anfängt. Wir wissen, dass mit dem Tod die ewige Seligkeit beginnt, die herrliche Zukunft, die Gott für uns bereitet hat. Hiob sehnt den Tod herbei, weil er sein jetziges leidvolles Leben nicht mehr weiterleben will. Ja, er geht in seiner Qual so weit, dass er eine ganz ungeheure Bitte vor Gott ausspricht. Er sagt: „Blicke doch weg von mir, damit ich Ruhe habe, bis mein Tag kommt, auf den ich mich wie ein Tagelöhner freue.“ Wenn ein frommer Mensch in Not betet und zu Gott schreit, dann erwarten wir doch, dass er bittet: „Herr steh mir bei, sei mir nahe, lass mich nicht im Stich!“ Hiob erbittet das genaue Gegenteil: „Blicke weg von mir, bleib mir fern, bleib mir vom Halse!“ Er empfindet sein schweres Leid ja gerade als Gottes zornig strafende Hand, die auf ihm lastet, obwohl er doch kein schlimmerer Sünder ist als andere.

„Gott, bleib mir fern!“ – was für eine unerhörte Bitte! Wir kennen das Sprichwort: „Not lehrt beten“, und wir wissen auch, dass es nicht immer stimmt: Manche Menschen wenden sich von Gott ab in der Not; manche fluchen, statt zu beten. Aber dass jemand in der Not betet: „Gott, lass mich in Ruhe, bleib mir vom Halse!“, das ist sehr un­gewöhnlich. Vielleicht würden auch wir den Hiob am liebsten rügen, wie seine Freunde es taten; vielleicht würden wir ihm sagen: „Hiob so darf, so kann man doch nicht beten!“ Aber eines müssen wir dem Hiob lassen, eines ist vorbildlich an diesem Gebet: Hiob ist dabei ganz ehrlich. Er ruft Gott ganz unverblümt das zu, was ihm auf dem Herzen liegt. In dieser Hinsicht kann der leidende Beter dem gesunden Beter oft zum Vorbild werden: Da ist keine Schminke mehr am Gebet, kein frommer Schein, keine klangvolles Wort­geklingel; da ruft einer einfach zu Gott, wie es ihm gerade zumute ist.

Hiob ruft zu Gott; seine Worte sagen: „Gott, bleib mir vom Halse!“ Aber die Tatsache, dass er so betet, verrät doch zugleich eine tiefe Sehnsucht, mit Gott im Reinen zu sein. Denn wenn er mit Gott gebrochen hätte, dann würde er gar nicht mehr zu ihm reden. So aber steht er im Zwiespalt der gequälten Seele: Er will von Gott in Ruhe gelassen werden – und findet doch keine Ruhe ohne ihn, er muss mit ihm reden. Er bleibt bei aller durch Schmerz verzerrten Gottessicht mit Gott im Gespräch – und das zählt, darauf kommt es an. Lieber Bruder, liebe Schwester, egal in welche Schmerzen und in welche Glaubens­krisen du je geführt wirst, egal, was dir Gott alles zumutet, bleibe nur mit ihm Gespräch! Auch wenn du ihn anschreist, anklagst, dich bei ihm beschwerst – das ist immer noch besser, als ihm den Rücken zuzukehren und überhaupt nicht mehr mit ihm zu reden.

Zum Schluss möchte ich euch noch verraten, wie Gott auf Hiobs Gebete reagiert hat. Gott hat ihm selbst­verständ­lich geantwortet – auf göttliche Weise freilich, also anders, als ein Mensch das tun würde. Er hat zunächst ein fürchter­liches Gewitter geschickt und ihm in diesem Sturm klar gemacht, dass Hiob, das Menschlein, kein Recht hat, den Schöpfer zur Rechen­schaft zu ziehen und seine Gerechtig­keit in Frage zu stellen. Er solle sich bloß nicht einbilden, dass sein kleines Menschen­gehirn die Wege und Werke des All­mächtigen begreifen könne. Das war Gottes erste Antwort. Und die zweite Antwort: Gott vergab Hiob seine Schuld und führte ihn zu neuem Glück. Er heilte seine Krankheit, schenkte ihm neuen Reichtum und ließ ihn weitere Kinder haben. Gott machte am Ende alles gut mit Hiob, er ließ ihn wieder glückliches und erfülltes Leben finden.

Beide Antworten gibt Gott auch uns Christen, wenn wir leiden müssen und nicht verstehen warum. Beide Antworten finden wir im Evangelium von Jesus Christus. Das Evangelium ist das Wort vom Kreuz, das dem natürlichen Menschen un­verständ­lich bleiben muss: Dass da durch Jesu Leiden und Tod die Sünden der ganzen Welt gesühnt worden ist, das kann man nur im Glauben staunend annehmen, nicht aber verstehen, dazu ist es zu groß. Das ist die erste Antwort Gottes an uns Christen: Im Kreuz liegt die Fülle des Segens, in Leid und Tod. Die zweite Antwort: Am Ende wird das Leben siegen, das gute, glückliche, erfüllte Leben. Es ist die Antwort der Auf­erstehung Jesu von den Toten. Die Botschaft vom Kreuz und die Botschaft der Auf­erstehung hängen ja eng miteinander zusammen: Wer durch Jesu Kreuzestod erlöst ist, der hat das ewige Leben durch Jesu Auf­erstehung; die ewige Seligkeit im Himmel wartet auf ihn. Das dürfen wir gewiss hoffen: Am Ende macht Gott alles gut, wie er es bei Hiob getan hat. Wenn die Blume verwelkt und der Schatten weg­gewandert ist, dann wird es Feierabend, dann kann der Tagelöhner seinen Lohn empfangen und sich ausruhen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2006.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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