Die Geschichte der Bronzeschlange

Predigt über 4. Mose 21,4‑9 zum Sonntag Judika

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ich möchte euch heute eine lange Geschichte erzählen, die Geschichte von der Bronze­schlange. Diese Geschichte ist viel länger als die sechs Bibelverse, die wir eben gehört haben; das ist erst der Anfang.

Der Anfang dieser Geschichte führt uns an das Ende der vierzig Jahre Wüsten­wanderung. Vierzig Jahre lang mussten die Israeliten als Nomaden in der Wüste leben, bevor sie im Land Kanaan sesshaft wurden. Gott hatte sein Volk in diesen vierzig Jahren treu beschützt und mit allem Lebens­notwendigen versorgt. Damit sie nicht ver­hungerten, hatte er ihnen das Manna geschenkt, wohl­schmecken­des Brot vom Himmel. Trotzdem war die Unzufrieden­heit der Israeliten am Ende sehr groß. „Das Manna hängt uns zum Halse heraus!“, schimpften sie. „Wasser gibt es auch nicht genug in diesem Staub und in dieser Hitze!“, jammerten sie. Das Schimpfen und Jammern hatten sie sich schon richtig angewöhnt. Wir können uns das gut vorstellen, denn auch in unseren Städten und Dörfern gibt es viele un­zufriedene Menschen, die sich das Schimpfen und Jammern angwöhnt haben – und das, obwohl Gott ihnen das tägliche Brot schenkt, abwechslungs­reiche Kost zum Sattessen, genug Wasser und andere Getränke und vieles andere mehr.

Über Gott schimpfen ist Sünde. Denn wer sich über Gott und seine Versorgung beklagt, der ist von vornherein im Unrecht. Gott ist gerecht und tut für uns sogar mehr, als gerecht­fertigt wäre. Er gibt uns nicht, was wir verdienen, sondern viel mehr, als was wir verdienen. Wie heißt es doch in Martin Luthers Erklärung zum ersten Glaubens­artikel? „Und das alles aus lauter väter­licher, göttlicher Güte und Barmherzig­keit, ohn all mein Verdienst und Würdig­keit.“ Wer dagegen schimpft und jammert, der verachtet Gottes Güte. So taten es die Israeliten in der Wüste. Ihre Meckerei war ein Aufstand gegen Gott, eine Meuterei, eine Revolution. Darum ist es nur zu verständ­lich, wenn Gott zum Gegen­angriff überging und zeigte, wer denn hier eigentlich der Herr ist. Er schickte viele Gift­schlangen, die krochen ins Brennholz, in die Zelte, in die Schlaf­decken und überall hin. Unvermutet bissen sie zu, ein Mittel gegen sie gab es nicht. Wer gebissen wurde, starb unter großen Schmerzen innerhalb eines Tages. Und wer nicht gebissen wurde, der musste mit der Angst weiter­leben, mit der Todesangst vor den Schlangen. Gott lehrte die Israeliten, was besser alle Leute lernen sollten: Sünde und Auflehnung gegen Gott führt zum Tode. Gott lässt sich nicht zum Narren halten.

Die Israeliten lernten die Lektion, bereuten ihr Murren und baten Gott um Vergebung. Sie sprachen zu Mose, dem von Gott eingesetzen Anführer: „Es war nicht recht, dass wir uns gegen den Herrn und gegen dich aufgelehnt haben. Leg doch beim Herrn ein gutes Wort für uns ein, damit er uns von diesen Schlangen befreit!“ Kurz: Die Israeliten taten Buße. Denn nichts anderes ist Buße in ihrem eigent­lichen, biblischen Sinne: Sünde bereuen und Gott um Hilfe bitten. Das sind zwei Dinge, die auch grundlegend für unseren christ­lichen Glauben sind: Sünde bereuen und Gott um Hilfe bitten. Sie gehören untrennbar zusammen. Wer nur die Hälfte davon tut, dem fehlt der Glaube ganz. Wer zum Beispiel nur bereut, aber nicht wirklich mit Gottes Hilfe rechnet, der wird in Ver­zweiflung enden. Wer anderer­seits seine Schuld nicht einsieht und lediglich Gottes Hilfe be­anspruchen möchte, der hat noch nicht den heiligen und gerechten Gott erkannt, dem wir Gehorsam schuldig sind. Beides ist wichtig und beides haben uns die Israeliten in der Wüste vorgemacht: Sünde bereuen und Gottes Hilfe erflehen.

Und dann half Gott. Er half in seiner un­nachahmlich göttlichen Art. Er half auf eine merkwürdige Art und Weise, ganz anders, als Menschen es sich ausdenken würden. Er half durch die bronzene Schlange. Er sprach zu Mose: „Fertige eine Schlange an und befestige sie oben an einer Stange. Wer gebissen wird, soll dieses Bild ansehen, dann wird er nicht sterben.“ Wenn wir ganz genau auf diese Worte achten, dann merken wir, dass drei Dinge bei Gottes Hilfe zusammen­kommen: erstens das äußere Zeichen (nämlich die Bronze­schlange), zweitens die Zusage aus Gottes Wort: „Wer dieses Bild ansieht, wird nicht sterben“, und drittens der Glaube, das Vertrauen der Gebissenen, die sich auf Gottes Hilfs­angebot verlassen, zur auf­gestellten Schlange eilen und sie ansehen. Gottes Zeichen, Gottes Wort und der Glaube, die machen zusammen Gottes Hilfe aus.

Die Wüsten­geschichte ist hier fast zu Ende. Es wird nur noch knapp berichtet, dass es so kam: Die Gebissenen sahen die Bronze­schlange an und blieben am Leben. Das ging so lange, bis die Schlangen­plage abebbte. Danach brauchte man die Schlange auf dem Stab nicht mehr; man verpackte sie gut und nahm sie mit im volks­eigenen Gepäck auf der Wüsten­wanderung. So kam es, dass die Bronze­schlange ins Land Kanaan kam, wo sie über Jahrzehnte und Jahr­hunderte im Heiligtum der Israeliten aufbewahrt wurde. Obwohl sie eigentlich keinen Nutzen mehr hatte, denn Gott hat seinem aus­erwählten Volk nie wieder eine Schlangen­plage geschickt. Aber man scheute sich wohl, so einen heiligen Gegenstand einfach auf den Müll zu werfen. Man behandelte ihn ehrfurchts­voll, so wie man heute vielleicht eine alte Bibel oder ein wertvolles Kruzifix behandeln würde. Dagegen ist nichts ein­zuwenden, allerdings – in solcher ehrfurchts­vollen Behandlung steckt auch eine Gefahr: die Gefahr des Götzen­dienstes. Sehr leicht schleicht sich der Aberglaube ein, dass in solch heiligen Gegen­ständen eine geheimnis­volle Kraft steckt, eine magische Kraft, eine Zauber­kraft. Der Aberglaube, dass man mit so einem Gegenstand Macht hat, Unheil abzuwehren und Glück herauf­zubeschwören. So gibt es heute Zeit­genossen, die kleben sich ein kleines Kruzifix auf das Armaturen­brett ihres Autos und meinen, das würde sie vor Unfällen bewahren. Oder Eltern lassen ihre kleinen Kinder taufen nicht, damit sie Jünger Jesu werden, sondern damit das Taufwasser sie vor schweren Krankheiten schützt. Das, liebe Gemeinde, ist Aberglaube, ein falscher Gebrauch von Kruzifixen und Taufwasser. Das ist Sünde gegen das zweite Gebot: „Du sollst den Namen, des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz ge­brauchen.“

Genau dieser Versuchung sind die Israeliten im Laufe der Jahr­hunderte erlegen. In der Köngiszeit, nach David und Salomo, begann man, die Bronze­schlange im Heiligtum als Kult­gegenstand zu verehren. Man schrieb ihr magische Kräfte zu, Zauber­kräfte. Man verbeugte sich vor ihr, fiel vor ihr nieder, betete sie an und entzündete Weihrauch vor ihr als Rauchopfer. Und so miss­brauchte man Gottes heiliges Zeichen, das der Herr damals als Hilfe in eine bestimmte Situation geschickt hatte. Man machte einen fremden Gott daraus und versündigte sich in ähnlicher Weise wie einst die Vorfahren in der Wüste. Denn wer neben dem einen Herrn der Welt Gegenstände anbetet und göttlich verehrt, der übertritt das erste Gebot; das ist Aufstand, Meuterei und Revolution gegen den wahren Gott. Erst sieben Jahr­hunderte nach der Wüsten­wanderung war ein König mutig genug, diesem Unsinn ein Ende zu bereiten. Es war der König Hiskia. Im zweiten Königsbuch heißt es, dass er die Bronze­schlange zerschlug, sodass sie niemand mehr zu aber­gläubischen Zwecken miss­brauchen konnte (2. Könige 18,4). Hiskia tat, was dem Herrn gefiel, heißt es in der Bibel.

Die Bronze­schlange wurde nun nicht länger aufbewahrt, wohl aber die Erinnerung an sie und Gottes Wort über sie. Noch zur Zeit Jesu wussten alle Juden darüber Bescheid, wie Gott einst in der Wüste durch dieses äußere Zeichen, durch sein Wort und durch den Glauben der tödlich Gebissenen Rettung vor dem sicheren Tod geschenkt hatte. Auch der schlaue Pharisäer Nikodemus wusste das. Es war der Mann, der einst bei Nacht zu Jesus kam, um sich heimlich und ungestört mit ihm zu unter­halten. Und da weihte Jesus ihn in das Geheimnis des Evangeliums ein, in das Geheimnis seines bevor­stehenden Kreuzes­todes und in das Geheimnis der heiligen Taufe, mit der Menschen in das Reich Gottes kommen. Er sagte ihm: „Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss auch der Menschen­sohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“ Und an dieses Wort schließt sich der berühmte Satz an, den man das Evangelium in der Nussschale genannt hat: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen ein­geborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh. 3,16). Wieder kommen die drei Dinge von Gottes Hilfe zusammen: erstens das Kreuz Jesu als äußeres Zeichen, zweitens die Zusage Gottes, dass durch den Tod des eingeborene Sohnes die Menschen das ewige Leben haben, und drittens der Glaube, und zwar diesmal der Glaube an den gekreuzig­ten Gottessohn. Und wieder geht es um Rettung vor dem sicheren Tod, diesmal freilich um die Rettung zum ewigen Leben.

Mit Jesu Tod am Kreuz ist die Geschichte der Bronze-Schlange aber immer noch nicht ganz zu Ende. Sie ging weiter durch die Jahr­hunderte und die Jahr­tausende, und sie geht heute noch weiter. Immer wenn ein Mensch getauft wird, dann kommt Gottes Hilfe durch Jesus zu ihm. Auch im Sakrament der Taufe hilft Gott durch das Zusammen­wirken der drei Dinge äußeres Zeichen (nämlich Wasser), Gottes Verheißungs­wort (“Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden“, Markus 16,16) und der Glaube des Getauften. Martin Luther hat es wunderbar im vierten Hauptstück des Kleinen Katechismus' zusammen­gefasst: „Wasser tut's freilich nicht, sondern das Wort Gottes, das mit und bei dem Wasser ist, und der Glaube, der solchem Wort Gottes im Wasser traut.“ Das ist ja überhaupt das Wesen der Sakramente: Äußere Zeichen werden durch Gottes Verheißungs­wort zu wirk­kräftigen Rettungs­taten des Herrn, die wir Menschen im Glauben annehmen soll. Nicht, dass das Sakrament aus sich selbst heraus magische Kraft entfaltet, es ist vielmehr ein Werkzeug, mit dem Gott aus dem Tode errettet und ewiges Leben schenkt. Darum dürfen und sollen wir die Sakramente auch nicht anders gebrauchen, als Jesus es seinen Jüngern geboten hat. Alles andere wäre Aberglaube.

Die Bronze­schlange, das Kreuz Jesu, das Wasser der Taufe – Gott hat in seiner un­nachahmlich göttlichen Art geholfen und hilft uns bis heute. Lassen wir uns helfen, zum ewigen Leben helfen! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2006.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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