Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Als wir bei den letzten drei Passionsandachten das Schwert, die Wasserschüssel und die Dornenkrone betrachtet haben, da haben wir gesehen: Diese Gegenstände tauchen nicht zufällig in der Passion Christi auf. Sie haben vielmehr eine tiefe Bedeutung, die mit der Geschichte des Volkes Israel und mit dem Alten Testament verknüpft ist. Dassselbe gilt auch für den Vorhang, den wir heute betrachten. Nun werdet ihr euch vielleicht fragen: Wo ist denn von einem Vorhang die Rede im Predigttext, in den beiden Psalmversen? Zwar ist der Vorhang nicht ausdrücklich genannt, aber er ist mitgenannt im Wort „Heiligtum“: „Der Herr sende dir Hilfe vom Heiligtum.“ Mit „Heiligtum“ ist das Hauptgebäude des Tempels gemeint; ursprünglich die Stiftshütte, das Zeltheiligtum der Israeliten in der Wüste. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Heiligtums war ein Vorhang, der den Hauptraum vom sogenannten Allerheiligsten abtrennte. Im Hauptraum standen der siebenarmige Leuchter, der Räucheraltar und der Tisch mit den Schaubroten. Hier taten die Priester gewöhnlich ihren Dienst. Das Allerheiligste aber hinter dem Vorhang durfte nur der Hohepriester betreten, und das auch nur einmal im Jahr, am Versöhnungstag. Hier stand die Bundeslade mit den steinernen Gesetzestafeln. Ihr Deckel galt als Thron Gottes; das war der sogenannte Gnadenthron. Dieser Vorhang, der die Bundeslade mit dem Gnadenthron vom Tempelalltag und vom Volk Israel abtrennte, der zerriss in der Todesstunde des Herrn. Was das zu bedeuten hat (auch für uns heute), das erschließt sich in seiner ganzen Tiefe nur dann, wenn wir wieder die Bedeutung dieses Gegenstands in alttestamentlicher Zeit bedenken.
Die alten Israeliten wussten: das Allerheiligste hinter dem Vorhang, das ist Gottes Wohnung. Da sitzt Gott auf dem Gnadenthron der Bundeslade, verhüllt in einer Wolke. Da ist er gegenwärtig bei seinem Volk, mit dem ihn sein Bund verbindet. Sie glaubten allerdings nicht, dass Gott nur da hinter dem Vorhang wäre und nirgendwo anders. Als der König Salomo seinen Tempelneubau einweihte, da sprach er ausdrücklich davon, dass alle Himmel Gott nicht fassen können, so groß ist er. Gott ist überall, das wissen wir auch heute. Aber wieso brauchte er dann eine Wohnung hinter dem Vorhang? Und wohnt er heute in den Kirchen, auf dem Altar? Ist er nicht überall, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind? Wohnt er nicht sowieso in jedem Christenherzen? Und ist er nicht auch dort zugegen, wo keine Christen sind? Und wo ist er, wenn ein Unglück geschieht, ein Autounfall, eine Explosion, ein Erdbeben? Ist er wirklich überall? Wo war er denn, als Jesus gekreuzigt wurde? Jesus hat doch gerufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“
Wir wissen, dass Gott allgegenwärtig ist. Aber wir müssen uns klar machen, dass Gott auf sehr verschiedene Weise gegenwärtig sein kann. Das gilt sogar innerhalb der Kirche: Im Gottesdienst ist er anders gegenwärtig als sonst. Und innerhalb des Gottesdienstes ist er im Heiligen Abendmahl wieder noch einmal auf andere Weise gegenwärtig, mit dem Leib und Blut seines Sohnes nämlich. Wenn wir nach Gottes Gegenwart fragen, dann brauchen wir nicht zu fragen: „Wo ist Gott?“ (ist er doch überall), sondern wir sollten fragen: „Wie ist Gott wo, auf welche Weise ist er wo gegenwärtig?“
Der Tempelvorhang kann uns helfen, bei dieser Frage Klarheit zu bekommen. In dem Segenswort des 20. Psalms heißt es: „Der Herr sende dir Hilfe vom Heiligtum!“ Vom Heiligtum, vom Allerheiligsten, von Gottes Wohnung und Thronsitz geht alle Hilfe aus. Vom Raum hinter dem Vorhang schickt Gott alle Hilfe, allen Schutz, alle Kraft. Denn da ist Gott mit seiner Gnade gegenwärtig. Er hat in seinem Wort feierlich zugesagt, dass er seinem Volk von da aus stets helfen wird, vergeben, erhören, beschützen, erlösen, segnen. Woanders kann sich Gottes Gegenwart auch zornig äußern, in Blitz und Donner, in Naturkatastrophen und im Zulassen menschlicher Bosheit. Woanders bleiben Gottes Gedanken und Absichten verborgen. Im Heiligtum aber, hinter dem Vorhang, da wohnt er mit all seiner Liebe und Gnade. Darum wandte man sich nach Jerusalem, wenn man betete. Darum kam man zum Tempel, wenn man opferte. Und darum dachte man an Zion, an den Tempelberg in Jerusalem, wenn man segnete: „Der HERR erhöre ich in der Not, der Name des Gottes Jakobs schütze dich! Er sende dir Hilfe vom Heiligtum und stärke dich aus Zion!“
Und nun verstehen wir, was es bedeutete, dass der Tempelvorhang in Jesu Todesstunde zerriss. Ein heiler Vorhang verhüllt, ein zerrissener Vorhang macht offenbar. Der Vorhang im Tempel ist zerrissen – und Gottes Gnade, Gottes Barmherzigkeit, Gottes Liebe wird offenbar, wird unverhüllt, wird uneingeschränkt grenzenlos. Der neue Bund bricht an, in dem Gottes Gnade nicht mehr in einem kleinen Raum hinter dem Vorhang gedacht werden muss, sondern wo sie ans Licht tritt und durch die Welt zieht. Und dies geschieht, weil Jesus für die Schuld aller Menschen stirbt. Weil Jesus am Kreuz alle Welt mit Gott versöhnt, so dass alle im Glanz seiner Gnade leben können.
Vorher war es ein abgesondertes Volk gewesen, das Volk Israel, unter dem Gott im Heiligtum gegenwärtig war. Der zerrissene Vorhang zeigt: Nun kommt die Hilfe aus Zion zu allen Völkern, nun will Gott die Menschen aller Rassen erlösen. Vorher war es nur der Hohepriester gewesen, der sich in Gottes Wohnung wagen durfte, in das Allerheiligste. Der zerrissene Vorhang zeigt: Nun können alle Menschen Priester werden und in Gottes Wohnung kommen. Wer getauft wird auf den Namen des gekreuzigten Herrn, der gehört zum königlichen Priestertum des neuen Gottesvolks. Vorher war der Segen aus dem Heiligtum denen vorbehalten, die sich an Gottes Gesetz hielten und fromm lebten. Der zerrissene Vorhang zeigt: Nun haben auch Sünder freien Zugang zu Gott, wenn sie nur ihre Sünde bereuen und Buße tun.
Unser Herr Jesus Christus hat am Kreuz erlebt und erlitten, was es heißt, von Gott verlassen zu sein, fern von Gottes gnädiger Gegenwart. Weil er das stellvertretend für die ganze Welt erlitt, haben nun alle Menschen die Möglichkeit, Gottes gnädige Gegenwart zu erfahren. Der Tempelvorhang, der sie bis dahin verhüllte, ist zerrissen. Seitdem ist Gottes gnädige Gegenwart überall da zu finden, wo Jesus Christus ist, wo der Heilige Geist am Werk ist – also überall da, wo Christen sind, wo die Kirche ist. Besonders heilsam wird diese Gegenwart des Herrn, wenn wir uns in seinem Namen versammeln und sein Wort hören. Und noch einmal besonders heilsam wird diese Gegenwart, wenn wir im Sakrament des Altars seinen Leib und sein Blut empfangen. Dann ist es tatsächlich so, als träten wir durch den Tempelvorhang in das Allerheiligste, in Gottes Wohnung. Und wir stehen dann schon an der Schwelle zur letzten und direktesten Weise von Gottes heilsamer Gegenwart: Wir denken daran, dass wir einst in der Herrlichkeit des Himmels an seiner Tafel sitzen werden. Amen.
PREDIGTKASTEN |