Der Tempelvorhang

Predigt über Psalm 20,2‑3 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Als wir bei den letzten drei Passions­andachten das Schwert, die Wasser­schüssel und die Dornenkrone betrachtet haben, da haben wir gesehen: Diese Gegenstände tauchen nicht zufällig in der Passion Christi auf. Sie haben vielmehr eine tiefe Bedeutung, die mit der Geschichte des Volkes Israel und mit dem Alten Testament verknüpft ist. Dassselbe gilt auch für den Vorhang, den wir heute betrachten. Nun werdet ihr euch vielleicht fragen: Wo ist denn von einem Vorhang die Rede im Predigt­text, in den beiden Psalm­versen? Zwar ist der Vorhang nicht aus­drücklich genannt, aber er ist mitgenannt im Wort „Heilig­tum“: „Der Herr sende dir Hilfe vom Heiligtum.“ Mit „Heiligtum“ ist das Haupt­gebäude des Tempels gemeint; ur­sprünglich die Stifts­hütte, das Zelt­heiligtum der Israeliten in der Wüste. Ein wesent­licher Bestandteil dieses Heiligtums war ein Vorhang, der den Hauptraum vom sogenannten Aller­heiligsten abtrennte. Im Hauptraum standen der sieben­armige Leuchter, der Räucher­altar und der Tisch mit den Schau­broten. Hier taten die Priester gewöhnlich ihren Dienst. Das Aller­heiligste aber hinter dem Vorhang durfte nur der Hohe­priester betreten, und das auch nur einmal im Jahr, am Versöhnungs­tag. Hier stand die Bundeslade mit den steinernen Gesetzes­tafeln. Ihr Deckel galt als Thron Gottes; das war der sogenannte Gnaden­thron. Dieser Vorhang, der die Bundeslade mit dem Gnadenthron vom Tempel­alltag und vom Volk Israel abtrennte, der zerriss in der Todesstunde des Herrn. Was das zu bedeuten hat (auch für uns heute), das erschließt sich in seiner ganzen Tiefe nur dann, wenn wir wieder die Bedeutung dieses Gegenstands in alt­testament­licher Zeit bedenken.

Die alten Israeliten wussten: das Aller­heiligste hinter dem Vorhang, das ist Gottes Wohnung. Da sitzt Gott auf dem Gnadenthron der Bundeslade, verhüllt in einer Wolke. Da ist er gegenwärtig bei seinem Volk, mit dem ihn sein Bund verbindet. Sie glaubten allerdings nicht, dass Gott nur da hinter dem Vorhang wäre und nirgendwo anders. Als der König Salomo seinen Tempel­neubau einweihte, da sprach er aus­drücklich davon, dass alle Himmel Gott nicht fassen können, so groß ist er. Gott ist überall, das wissen wir auch heute. Aber wieso brauchte er dann eine Wohnung hinter dem Vorhang? Und wohnt er heute in den Kirchen, auf dem Altar? Ist er nicht überall, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind? Wohnt er nicht sowieso in jedem Christen­herzen? Und ist er nicht auch dort zugegen, wo keine Christen sind? Und wo ist er, wenn ein Unglück geschieht, ein Autounfall, eine Explosion, ein Erdbeben? Ist er wirklich überall? Wo war er denn, als Jesus gekreuzigt wurde? Jesus hat doch gerufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“

Wir wissen, dass Gott all­gegenwärtig ist. Aber wir müssen uns klar machen, dass Gott auf sehr ver­schiedene Weise gegenwärtig sein kann. Das gilt sogar innerhalb der Kirche: Im Gottes­dienst ist er anders gegenwärtig als sonst. Und innerhalb des Gottes­dienstes ist er im Heiligen Abendmahl wieder noch einmal auf andere Weise gegen­wärtig, mit dem Leib und Blut seines Sohnes nämlich. Wenn wir nach Gottes Gegenwart fragen, dann brauchen wir nicht zu fragen: „Wo ist Gott?“ (ist er doch überall), sondern wir sollten fragen: „Wie ist Gott wo, auf welche Weise ist er wo gegen­wärtig?“

Der Tempel­vorhang kann uns helfen, bei dieser Frage Klarheit zu bekommen. In dem Segenswort des 20. Psalms heißt es: „Der Herr sende dir Hilfe vom Heiligtum!“ Vom Heiligtum, vom Aller­heiligsten, von Gottes Wohnung und Thronsitz geht alle Hilfe aus. Vom Raum hinter dem Vorhang schickt Gott alle Hilfe, allen Schutz, alle Kraft. Denn da ist Gott mit seiner Gnade gegen­wärtig. Er hat in seinem Wort feierlich zugesagt, dass er seinem Volk von da aus stets helfen wird, vergeben, erhören, beschützen, erlösen, segnen. Woanders kann sich Gottes Gegenwart auch zornig äußern, in Blitz und Donner, in Natur­katastrophen und im Zulassen mensch­licher Bosheit. Woanders bleiben Gottes Gedanken und Absichten verborgen. Im Heiligtum aber, hinter dem Vorhang, da wohnt er mit all seiner Liebe und Gnade. Darum wandte man sich nach Jerusalem, wenn man betete. Darum kam man zum Tempel, wenn man opferte. Und darum dachte man an Zion, an den Tempelberg in Jerusalem, wenn man segnete: „Der HERR erhöre ich in der Not, der Name des Gottes Jakobs schütze dich! Er sende dir Hilfe vom Heiligtum und stärke dich aus Zion!“

Und nun verstehen wir, was es bedeutete, dass der Tempel­vorhang in Jesu Todesstunde zerriss. Ein heiler Vorhang verhüllt, ein zerrissener Vorhang macht offenbar. Der Vorhang im Tempel ist zerrissen – und Gottes Gnade, Gottes Barmherzig­keit, Gottes Liebe wird offenbar, wird unverhüllt, wird un­eingeschränkt grenzenlos. Der neue Bund bricht an, in dem Gottes Gnade nicht mehr in einem kleinen Raum hinter dem Vorhang gedacht werden muss, sondern wo sie ans Licht tritt und durch die Welt zieht. Und dies geschieht, weil Jesus für die Schuld aller Menschen stirbt. Weil Jesus am Kreuz alle Welt mit Gott versöhnt, so dass alle im Glanz seiner Gnade leben können.

Vorher war es ein ab­gesondertes Volk gewesen, das Volk Israel, unter dem Gott im Heiligtum gegenwärtig war. Der zerrissene Vorhang zeigt: Nun kommt die Hilfe aus Zion zu allen Völkern, nun will Gott die Menschen aller Rassen erlösen. Vorher war es nur der Hohe­priester gewesen, der sich in Gottes Wohnung wagen durfte, in das Aller­heiligste. Der zerrissene Vorhang zeigt: Nun können alle Menschen Priester werden und in Gottes Wohnung kommen. Wer getauft wird auf den Namen des ge­kreuzigten Herrn, der gehört zum königlichen Priestertum des neuen Gottes­volks. Vorher war der Segen aus dem Heiligtum denen vor­behalten, die sich an Gottes Gesetz hielten und fromm lebten. Der zerrissene Vorhang zeigt: Nun haben auch Sünder freien Zugang zu Gott, wenn sie nur ihre Sünde bereuen und Buße tun.

Unser Herr Jesus Christus hat am Kreuz erlebt und erlitten, was es heißt, von Gott verlassen zu sein, fern von Gottes gnädiger Gegenwart. Weil er das stell­vertretend für die ganze Welt erlitt, haben nun alle Menschen die Möglich­keit, Gottes gnädige Gegenwart zu erfahren. Der Tempel­vorhang, der sie bis dahin verhüllte, ist zerrissen. Seitdem ist Gottes gnädige Gegenwart überall da zu finden, wo Jesus Christus ist, wo der Heilige Geist am Werk ist – also überall da, wo Christen sind, wo die Kirche ist. Besonders heilsam wird diese Gegenwart des Herrn, wenn wir uns in seinem Namen versammeln und sein Wort hören. Und noch einmal besonders heilsam wird diese Gegenwart, wenn wir im Sakrament des Altars seinen Leib und sein Blut empfangen. Dann ist es tatsächlich so, als träten wir durch den Tempel­vorhang in das Aller­heiligste, in Gottes Wohnung. Und wir stehen dann schon an der Schwelle zur letzten und direktesten Weise von Gottes heilsamer Gegenwart: Wir denken daran, dass wir einst in der Herrlich­keit des Himmels an seiner Tafel sitzen werden. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2006.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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