Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
In dem bemerkenswerten Film „Sophie Scholl – die letzten Tage“ wird ausführlich dargestellt, wie die Studentin Sophie Scholl vom Kriminalkommissar Mohr verhört wird. Sophie Scholl hatte zusammen mit ihrem Bruder Hans Flugblätter in der Münchener Universität verteilt; darin protestierten sie gegen die Verbrechen Hitlers und der Nationalsozialisten. Die Geschwister waren erwischt und festgenommen worden. Nach anfänglichem Leugnen gab Sophie Scholl die Tat zu und rechtfertigte sich damit, dass sie aus Gewissensgründen die Naziverbrechen nicht länger schweigend dulden konnte. Der Kommissar Mohr war durchaus beeindruckt von der jungen Frau und bot ihr an, ein juristisches Schlupfloch zu finden, wenn sie zugeben würde, dass die Sache mit den Flugblättern eine unüberlegte Dummheit war. Sophie Scholl jedoch wollte sich darauf nicht einlassen. An dieser Stelle im Film steht der Kommissar auf, tritt an ein Waschbecken in der Ecke des Raums und wäscht sich gründlich die Hände. Die Botschaft ist klar: „Ich wasche meine Hände in Unschuld“ – Ich trage keine Verantwortung, wenn diese Frau jetzt zum Tode verurteilt wird; ich habe ja versucht, ihr herauszuhelfen.
Die Hände in Unschuld waschen – ein Sprichwort und eine Zeichenhandlung, die viel älter sind als der erwähnte Film und das Dritte Reich, viel älter auch noch als Pontius Pilatus, der sich nach seinem feigen Fehlurteil über Jesus die Hände gewaschen hatte. Das Waschen der Hände in Unschuld geht auf ein Gesetz zurück, das Gott dem Volk Israel durch Mose gegeben hatte. Dieses Gesetz schreibt Folgendes vor: Wenn ein Ermorderter auf freiem Feld gefunden wird, ohne dass der Täter bekannt ist, dann sollen die Ältesten der nächsten Ortschaft eine junge Kuh opfern, über dem Opfertier ihre Hände waschen und sagen: „Unsere Hände haben dies Blut nicht vergossen, und unsere Augen haben's nicht gesehen“ (5. Mose 21,7). Auf diese Weise sollen sie die Unschuld der Ortsbewohner bezeugen.
Seitdem ist es in Israel üblich geworden zu sagen: „Ich wasche meine Hände in Unschuld“, wenn einer vor anderen bezeugen will, dass er für eine schlimme Tat keine Verantwortung trägt. Und darum betete David im 26. Psalm: „Ich wasche meine Hände in Unschuld und halte mich, HERR, zu deinem Altar.“ Der ganze Psalm ist eine einzige Unschuldsbeteuerung des Königs. David bittet Gott darum, ihn zu beschützen und damit seine Reinheit zu belohnen. Gleich am Anfang heißt es: „HERR, schaffe mir Recht, denn ich bin unschuldig!“
Der römisch Statthalter Pontius Pilatus kannte die jüdische Sitte, durch Händewaschen seine Unschuld zu bezeugen. Als er im Prozess gegen Jesus keine Möglichkeit mehr sah, diesen offensichtlich harmlosen Mann ohne politischen Gefahr frei zu lassen, da griff er zu diesem Kniff – sei es, um das eigene Gewissen zu besänftigen, oder sei es, um sich gegen noch vorhandene Sympathisanten Jesu abzusichern. Er lässt sich eine Wasserschüssel bringen und wäscht demonstrativ vor der großen Volksmenge seine Hände. Dazu sagte er: „Ich bin unschuldig an seinem Blut; seht ihr zu!“ (Matth. 27,24). Er will sagen: Auch wenn ich jetzt formal dieses Todesurteil verhänge, trage ich doch keine Verantwortung dafür, sondern führe nur auf dem Dienstweg das aus, was der Hohe Rat der Juden zu verantworten hat. Das Volk verstand das sehr gut und erwiderte: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ – „Wir übernehmen die volle Verantwortung an diesem Todesurteil, und zwar unbefristet, auch noch für kommende Generationen.“
Nun ist ja ganz deutlich, dass das Verhalten des Pilatus unredlich war. Er wollte sich mit dem Händewaschen nur elegant aus der Affäre ziehen. Die Verantwortung konnte er damit natürlich nicht abschütteln. Welcher Richter darf einen Unschuldigen zum Tode verurteilen, auch wenn unglückliche Umstände ihn dazu drängen? Kein Richter darf das. Wenn Pilatus nur ein bisschen Rückgrat und Verantwortungsbewusstsein gehabt hätte, dann hätte er Jesus freisprechen müssen. Ebenso: Wenn der Kommissar Mohr verantwortlich nach seinem Gewissen gehandelt hätte und nicht nach menschenverachtenden Gesetzen, dann hätte er Sophie Scholl nicht in die Hände Freislers und des Volksgerichtshofs überantworten dürfen.
Aber was wollen wir über andere reden? Wie sieht es denn bei uns aus? Gibt es das nicht auch heute noch, in unserer Zeit? Vielleicht nicht so Aufsehen erregend, aber von der Sache her dasselbe. Da gibt es zum Beispiel viele ungesetzliche Geldzahlungen: da werden Arbeiten und Dienste mit einem Geldschein unter der Hand vergütet, ohne dass die Steuerbehörde oder das Amt für Grundsicherung etwas davon erfährt. Viele, die bei solchem Betrug an der Allgemeinheit mitmachen oder davon erfahren, sagen: Ich wasche meine Hände in Unschuld – ich trage keine Verantwortung. Oder auch dies: Da haben wir uns fast schon dran gewöhnt, dass ungeborenes Leben getötet wird. Ein kleiner wehrloser Mensch wird im Krankenhaus klinisch steril ums Leben gebracht und sein geschundener Leib dann einfach verbrannt. Gesetze unseres Staates ermöglichen dies und unsere Steuergelder werden dafür herangezogen, um dieses Unrecht zu finanzieren. Müssten wir uns nicht viel deutlicher dagegen wehren? Aber weil wir uns schon fast daran gewöhnt haben, sagen wir: Ich wasche meine Hände in Unschuld. Ich trage keine Verantwortung. Ich habe die entsprechenden Gesetze ja nicht gemacht, ich bin ja dagegen.
Wer seine Hände in Unschuld wäscht und damit bezeugt, dass er keine Verantwortung für irgend etwas Schlimmes hat, der sollte schon sicher sein, dass er das auch vor Gott und seinem Gewissen vertreten kann. Sonst wäre es eine schlimme Lüge, ein Meineid gewissermaßen.
Aber wie war das denn mit David, der sich vor Gott so pauschal als Unschuldiger darstellte? War der denn wahrhaftig, als er sagte: „Ich wasche meine Hände in Unschuld und halte mich, Herr, zu deinem Altar“? Wie war denn das noch mit der Batseba und dem Uria? Wie war denn das mit seinem Ehebruch und Mord? Nein, David war keineswegs ein völlig sündenfreier Mensch. Und er wusste das auch selbst. Er war sich auch dessen bewusst, als er diesen Psalm betete. Da bittet er nämlich zum Schluss: „Erlöse mich und sei mir gnädig!“ Er bittet also Gott um Vergebung. Und er ist sich dessen sicher, dass Gott diese Bitte erhört und seine Schuld vergibt. So sicher ist er sich der Sündenvergebung, dass er sich selbst so ansehen kann, wie Gott ihn in seiner Gnade ansieht: reingewaschen, heilig, gerecht, schuldfrei – nicht um seines Tuns willen, sondern um Gottes gnädigen Richterspruchs willen.
So, liebe Gemeinde, dürfen auch wir vor Gott treten und sagen: „Ich wasche meine Hände in Unschuld.“ Oder besser: „Gott, du hast mir meine Hände in Unschuld gewaschen, und nicht meine Hände allein, sondern auch das Haupt und damit den ganzen Menschen. Du hast mich in der heiligen Taufen reingewaschen von aller Schuld. Und so weiß ich, dass ich heilig, gerecht und schuldfrei bin.“ Und woher nehme ich die Gewissheit, so zu sprechen? Ich finde sie bei niemand anderem als bei dem unschuldigen Jesus Christus, der von Pontius Pilatus zum Tode verurteilt wurde. Ich weiß, dass da mit dem unschuldigen Jesus meine Schuld am Kreuz hing, damit ich, der Sünder, schuldfrei werde. Und wenn ich wieder schuldig werde und gegen Gott und mein Gewissen handeln sollte, dann kann ich in Gedanken getrost in Gottes Waschschüssel zurückkehren, in das Bad der Wiedergeburt, in meine Taufe, die ihre Kraft aus dem Opfer Jesu Christi hat. Amen.
PREDIGTKASTEN |