Klagen erlaubt, Hoffnung vorhanden

Predigt über Klagelieder 3,22‑32 zum 16. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Manche Christen denken, sie dürfen nicht klagen (es sei denn über die Schlechtig­keit der gottlosen Welt). Sie meinen, ein Christ muss immer fröhlich sein. Das ist ein Irrtum, wenn auch ein weit ver­breiteter. Gottes Kinder dürfen durchaus klagen. Ein ganzes Buch der Bibel steht unter der Überschrift „Klage­lieder“: Es sind Klagegebete des Propheten Jeremia, der in seinem Leben unheimlich viel Leid erleben musste. Unser Predigttext ist ein Stück aus so einem Klagelied. Auch viele Psalmen sind Klage­lieder. Christen dürfen also klagen – voraus­gesetzt, sie haben Grund dazu, und voraus­gesetzt, sie wenden sich mit ihrem Klagen an die richtige Adresse.

Ich meine hier nicht das alltägliche Gejammere mancher Leute, bei denen das Klagen zu einer schlechten Angewohnheit geworden ist. Sie klagen auch dann, wenn sie eigentlich keinen Grund dazu haben. Sie klagen, wenn sie im Supermarkt an der Kasse zu lange warten müssen. Sie klagen, wenn das Essen nicht schmeckt. Sie klagen, wenn sie sich nicht alles leisten können, was sie wollen. Sie klagen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Ja, in Deutschland hört man einen nicht enden wollenden Chor von Klage­liedern, obwohl wir doch mit unserem Lebens­standard weitaus mehr Grund zum Loben und Danken haben als zum Klagen.

Aber wer wirklich Grund zum Klagen hat, der darf auch klagen. Besonders dann, wenn sein normales bisheriges Leben zerstört wird, wenn sich seine Träume und Hoffnungen zer­schlagen, wenn kaputt geht, was er sich mühevoll aufgebaut hat. Die Familie aus New Orleans darf klagen, die sich ein Haus baute, einen Garten anlegte ein Auto zusammen­sparte, und nun ist alles weg, Garten, Auto und Haus mit allem, was sich darin befand; sie besitzen nur noch, was sie am Leibe getragen haben, als der Wirbelsturm mit der Flut kam. Oder die Frau in der Lebensmitte darf klagen, die plötzlich die Diagnose „Krebs“ erhält und hört, dass medizinisch keine Hoffnung besteht. Sie weiß, sie wird noch dringend gebraucht, auch hatte sie noch so viele Pläne und Hoffnungen für ihr Leben, und nun muss sie damit rechnen, dass es in kurzer Zeit zu Ende geht. Der Geschäfts­mann darf klagen, der mühsam eine Existenz gegründet hat, der Kredite aus­handelte, der von früh bis spät hart arbeitete und nun doch bankrott gegangen ist. Auch Jeremia durfte klagen und das Volk der Juden, als die Babylonier die ganze Stadt Jerusalm verbrannt hatten und vom heiligen Tempel nur noch ein trostloser Trümmer­haufen übrig geblieben war. Viele Bewohner wurden dann als Gefangene in langen, beschwer­lichen Fußmärschen nach Babylonien gebracht, wo sie dem Siegervolk als Sklaven dienen mussten. Dieses ent­setzliche Geschehen der Babylo­nischen Gefangen­schaft ist Gegenstand vieler Klage­psalmen in der Bibel und auch der Klagelieder Jeremias. Ja, man darf klagen, wenn die Stadt zerstört ist, wenn das Haus zerstört ist, wenn die Gesundheit zerstört ist, wenn die berufliche Existenz zerstört ist, wenn die menschliche Hoffnung zerstört ist, wenn das irdische Lebensglück zerstört ist.

Wer wirklich Grund dazu hat, darf klagen, voraus­gesetzt, er wendet sich an die richtige Adresse. Das wird oft ein lieber, verständnis­voller Mensch sein, bei dem man sich mal das Herz ausschütten kann. Vor allem aber ist es unser Vater im Himmel, denn wer hätte mehr Liebe und Verständnis als er? So sind die Klage­psalmen und Klagelieder der Bibel allesamt nach oben gerichtet, an Gottes Adresse. Ja, das ist gut, wenn man sich mit allem Jammer, aller Klage und allem, was das Herz bedrückt, Gott zuwendet. Verhängnis­voll wäre es, wenn man sich in so einer Lage von ihm abwendete, den Glauben aufgäbe und meinte, Gott hätte uns im Stich gelassen.

Wer sich mit seiner Klage an Gott wendet, der wird die Erfahrung machen, dass Gott ihn dann tröstet. Von diesem Trost handelt der Abschnitt aus Jeremias Klagelied, den wir als Predigttext gehört haben. Es ist kein ungewisser Trost, keine nebulöse Hoffnung, es handelt sich auch nicht um leeres Gerede. Nein, Gottes Trost ist verläss­lich, klar und wunderbar: „Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind.“ Wir leben noch – dank der Güte Gottes. Und wir werden weiter­leben, komme, was da wolle. Jesus ist gestorben, damit wir ewig leben können, und dieses Versprechen Gottes gilt noch heute uneinge­schränkt für alle, die an Jesus glauben. Gott mag uns viel Schweres zumuten, aber verstoßen will er uns nicht. Leben heißt ja nichts anderes, als dass Gott bei uns bleibt und wir bei ihm.

Liebe Gemeinde, Gott garantiert niemandem, dass sich bestimmte erwünschte Lebens­verhältnis­se auf Erden wieder­herstellen lassen, dass ich Besitz und Gesundheit wieder in vollem Umfang zurück­erlange. Aber Gott garantiert den Seinen, dass er zu ihnen hält, bei ihnen ist und es immer gut mit ihnen meint. „Seine Barmherzig­keit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen.“ „Teil“ bedeutet „Erbteil“ oder „Besitz“: Wenn ich auch alles verliere, was Natur­katastro­phen und Wirtschafts­krisen mir rauben können, Gott kann ich nicht verlieren, und ich werde ihn auch nicht verlieren, er bleibt mein Teil. „Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.“

Wenn einer mit dieser Einstellung Gott sein Leid klagt und zugleich diesen Trost erfährt, dann stellt sich damit noch ein weiterer Trost ein, die Erkenntnis nämlich: „Der Herr verstößt nicht ewig.“ Das bedeutet: Er mutet uns nicht andauernd und in Ewigkeit leidvolle Erfahrungen zu. Es sind vielmehr vorüber­gehende Verluste, die zwar im Augenblick sehr weh tun, die aber kein endgültiger Untergang sind. Mit anderen Worten: Wer Gott sein Leid klagt, der schöpft wieder Hoffnung. Ohne Gott kann das Klagen zur Ver­zweiflung führen, denn ohne Gott muss der Mensch annehmen, er sei nur ein Staubkorn im Universum, dass vom Zufall beliebig hin und her geweht wird und am Ende vergeht. Mit Gott aber kann mitten im Klagelied plötzlich ein Loblied aufkeimen – wie bei Jeremia: „Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. Es ist ein köstlich Ding für einen Mann, dass er das Joch in seiner Jugend trage.“ Ein wunderbares Gleichnis: Wenn ein junger Mensch Schweres durchmacht, dann kann es danach für ihn nur bergauf gehen, dann kann es nur besser werden. Was waren die entbehrungs­reichen Jahre nach 1945 doch gleich­zeitig für gute Jahre für die Jugend: Sie lernte aufzubauen, fleißig zu sein und zu hoffen. Ein alter Mensch im Pflegeheim, dem nur noch der enge Lebensraum seines Bettes verbleibt, hat menschlich gesehen solche Hoffnung nicht, aber mit Jesus Chrisus hat er sie, denn wer an Jesus glaubt, der hat in jedem Fall das beste Stück Leben noch vor sich.

Und was hilft diese Zukunfts­aussicht dem Klagenden jetzt? Sie hilft sehr viel. Sie tröstet ihn jetzt. Sie zeigt ihm, dass Gott ihn nicht verstoßen hat. Sie bewahrt ihn vor der Ver­zweiflung. Die Hoffnung gibt ungeheuer viel Kraft, das Schwere zu tragen. Sie beflügelt den Menschen, ganz anders mit seiner Situation umzugehen und viel mehr Geduld zu haben, als wenn die Hoffnung nicht da wäre.

Darum sollten wir auch dann, wenn wir berechtig­ten Grund zur Klage haben, unsere Klagelieder und Klagegebete mit Lob und Dank vermischen: „Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzig­keit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2005.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum